Oliver Wille, Intendant Sommerliche Musiktage Hitzacker, im Porträt. © picture alliance/Julian Stratenschulte/dpa Foto: Julian Stratenschulte

Intendant Wille: "Mozart zu spielen ist wie auf rohen Eiern zu laufen"

Stand: 14.05.2023 15:57 Uhr

Nach Beethoven und Schubert soll in diesem Sommer Mozart bei den Sommerlichen Musiktagen in Hitzacker im Fokus stehen. Warum das ein ungewöhnlicher Schritt ist und wie man sich einem der größten Komponisten aller Zeiten annähert, erläutert Festival-Intendant Oliver Wille im Interview.

In diesem Jahr treffen sich Freundinnen und Freunde der Kammermusik vom 29. Juli bis 6. August bei den Sommerlichen Musiktagen in Hitzacker. Mit Mozart, schreibt Intendant Oliver Wille auf der Festival-Homepage, wagen sich die Musiktage "an den Komponisten heran, den wir alle so gern haben, unendlich bewundern und vor dem wir zuweilen erschrecken."

Herr Wille, wie ist es zu dem Mozart-Motto bei den Sommerlichen Musiktagen in diesem Jahr gekommen?

Oliver Wille: Die Sommerlichen Musiktage sind das älteste Kammermusik-Festival Deutschlands. 2018 habe ich zum ersten Mal einen Komponisten in den Mittelpunkt gestellt. Das war damals Beethoven. Das wurde bis dahin angeblich noch nie gemacht, dass nur ein Komponist als Ausgangspunkt des Programms im Fokus ist. Beethoven war ein Komponist, der sehr viele neue Perspektiven eröffnet hat. Da gab es beispielsweise sehr viel aktuelle Musik und auch eine Theater-Performance über Beethoven. Es war das bestverkaufte Jahr in der Geschichte unseres Festivals, sodass ich für 2021 Schubert ausgewählt habe, weil er auch ein Komponist ist, der mir sehr ans Herz gewachsen ist.

Nun wage ich mich an Mozart heran, was überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist. Denn Mozart, der so berühmte Komponist, der auch immer wieder in allen Konzerten weltweit auftaucht, ist jemand, der vielleicht unterschiedlicher gar nicht gespielt wird. Es gibt sehr viele Herangehensweisen an seine Musik. Trotzdem hat man als Interpret immer das Gefühl: Man läuft auf rohen Eiern. Das hängt damit zusammen, dass diese Musik so genial und fantastisch komponiert ist, alles "stimmt". Eine eigene Meinung dazu zu finden und das persönlich zu interpretieren, braucht Mut und ein ganz überzeugendes Verständnis für diese Musik. Deshalb ist es gar nicht selbstverständlich, ein Festival mit dem Schwerpunkt Mozart durchzuführen. Mozart war auch jemand, der seiner Zeit voraus gewirkt hat. Und insofern passt er zum Anspruch des Festivals, Tradition mit Moderne zu verbinden.

Können Sie erklären, warum Mozart selten im Fokus steht bei anderen Festivals?

Wille: Wenn man ins Konzert geht, ist Mozart beim Kammermusikabend oft das erste Stück und hat ein bisschen diesen "Warmspielcharakter", bevor dann neuere Musik oder vermeintlich komplizierter zu hörende Musik kommt. Mozart nun als Schwerpunkt, in seiner ganzen Vielfalt und mit allen möglichen Anknüpfungsaspekten zu haben, ist eben nicht nur ein Teil eines Konzertes, sondern der Fokus, an dem sich jedes Konzertprogramm aufhängt, das bei den Sommerlichen Musiktagen in diesem Jahr gespielt wird. Normalerweise ist es so: Man hat eine Einladung zu einem Konzert, dann wird am Anfang Mozart gespielt. Und erst danach geht es um das, was das große Anliegen ist. Jetzt ist Mozart das Anliegen, ihn genauer zu betrachten und auszuleuchten lohnt sich, und das andere bezieht sich darauf. Ich glaube, dass dies eine ungewöhnliche Herangehensweise der Programmgestaltung ist.

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Wille: Da erzähle ich immer eine Anekdote aus meinem eigenen Leben: Als ich angefangen habe, im Kuss Quartett zu spielen, das ist sehr lange her, weil wir mit 14 angefangen haben, da war eines der ersten Stücke der Finalsatz aus dem berühmten G-Dur-Streichquartett von Mozart. Das war noch zu DDR-Zeiten, da gab es für uns keinen Zugang zu Bibliotheken und kein Internet. Wir hatten tatsächlich nur die erste Hälfte des Stückes von unserem Lehrer damals aufgeschrieben bekommen und sollten dann selbst weiter komponieren, als Übung. Wir haben ein Formbewusstsein vermittelt bekommen und wussten, wie die Komposition im Allgemeinen funktioniert und haben uns dann auch ganz brav daran gemacht. In der nächsten Woche beim Unterricht zu sehen, was Mozart tatsächlich erfunden hat, dass er nämlich mit allen Konventionen gebrochen hat, er etwas komponiert hat, was wahrscheinlich niemand anderem eingefallen wäre - das hat mich total überrascht. Ein unvergessenes Aha-Erlebnis. Wenn ich Mozart heute höre, dann gibt es ganz oft Erlebnisse und Momente, in denen ich denke: das ist fantastisch! Wie kommt er darauf?

Was wird denn bei Ihrem Programm eine ganz besonders außergewöhnliche Herangehensweise an Mozart sein?

Wille: Ich glaube, das Eröffnungskonzert wird sehr ungewöhnlich. Unter unseren Gästen sind viele Wiederholungstäter, die jedes Jahr kommen und sich dort wieder treffen. Wenn sie Mozart auf dem Programm lesen, haben sie eine ganz bestimmte Hör- und Erlebniserwartung. Dort werden zwei junge Streichquartette spielen, die in der Quartett-Akademie sind in diesem Jahr. Sie spielen Stücke, die Mozart mit elf Jahren komponiert hat - er also ganz am Anfang seiner Kompositionen stand. Die meisten Werke, die gespielt werden, sind auf dem Weg nach Wien entstanden. Er ist ja nach Wien gegangen, weil er in Salzburg vom Erzbischof rausgeschmissen wurde. Diese Geschichte erzählen wir auf unsere eigene Art und Weise nach. Das Programm wird "Nach Wien, nach Wien" heißen und es wird auch ein Lied-Duo geben, das da frech reingrätscht. Die werden auch Falco interpretieren mit "Rock Me, Amadeus" und Georg Kreislers "Taubenvergiften", um eine Wiener Atmosphäre herzustellen. Der Schauspieler Ulrich Noethen wird eine Geschichte von Thomas Bernhard lesen, in der es um eine Hassliebe in Wien geht. Meine Idee ist, dass wir mit Mozart an diesen gewünschten Ort reisen, den Ort seines Verlangens, um dann womöglich festzustellen: Vielleicht ist dort auch nicht alles so, wie erträumt. Beziehungsweise die Probleme, die es überall auf der Welt gibt, gibt es eben auch dort.

Was glauben Sie, war Mozart für ein Mensch?

Wille: Wir Musiker machen immer gerne das Spiel: Wen würden wir gern kennenlernen? Ich glaube, dass es unglaublich schön wäre, Mozart kennenzulernen. Ich habe natürlich einen wahnsinnigen Respekt vor seinem Können, vor seinen Einfällen und seiner, was wir heute so platt, Genialität nennen. Aber ich glaube, dass er jemand war, der einen wunderbaren Humor hatte, mit dem man gerne mal Konzerte gespielt hätte. Weil ich mir vorstelle, dass in diesen Konzerten auch ungewöhnliche Sachen passiert wären. Ich stelle mir Mozart als jemanden vor, der überhaupt keine Konventionen mochte, aber nicht aus einem revolutionären Gedanken heraus, der alles zerstören soll, um anders zu sein, sondern um vorhandene Grenzen auszureizen. Wenn man zum Beispiel mit anderen zusammen spielt, dann plötzlich so zu spielen, dass alle einem folgen müssen, ganz spontan und witzig und voller Ideen und Abweichungen des Normalen. Ich glaube, dass er dabei in jeder Sekunde präsent und lebendig wäre, super schnell, wach und musikalisch erzählfreudig - mit ihm wäre man bestimmt gerne mal einen trinken gegangen. Ich kann mir vorstellen, dass er eine sehr gute und vergnügliche Gesellschaft wäre.

Schlägt sich diese Sicht auch in Ihren Interpretationen von Mozart-Stücken nieder?

Wille: Diese Spontaneität, das Spielerische und auch die Umwege in seiner Musik - dass man die wirklich hörbar erlebbar macht, hat in der Interpretation einen großen Einfluss. Mir geht es beim Mozart-Spielen nicht nur darum, stilistisch möglichst authentisch zu sein, was auch immer das heißt. Natürlich spielt die historische Aufführungspraxis heute eine große Rolle bei Mozart-Interpretationen, aber mir geht es auch darum: Was hat dieses Stück mit unserem Leben zu tun? Wie berührt es uns? Was berührt uns daran? Wie muss man es spielen, damit wir berührt werden? Wir sind heute wahrscheinlich viel abgestumpfter als die Hörer in der damaligen Zeit. Von daher geht es darum, zu zeigen, wie ursprünglich, wie inspirierend, wie intuitiv er mit Tönen umgeht. Das erfordert auch in der Interpretation Spontaneität, Neugierde und Lust auf Abenteuer.

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Sie haben in Ihrer Festival-Ankündigung auch geschrieben, dass kaum jemand so unterschiedlich interpretiert wurde wie Mozart. Woran liegt das? 

Wille: Ein einfacher Grund ist zum Beispiel, dass es damals noch kein Metronom gab. Wenn Mozart "Allegro" schreibt, also lebendig, fröhlich oder schnell, dann hatte man ein paar Jahrzehnte später plötzlich das Metronom. Beethoven schreibt die Tempomessungen in die Noten, damit die Interpreten genau wissen, wie schnell gespielt werden soll. Das ist bei Mozart noch nicht der Fall, das heißt, man muss es selbst finden. Der Charakter der Musik muss stimmen und muss zu der Idee, die Mozart für dieses Stück hat, passen. Mithilfe der eigenen Aussage, die man treffen will, welche Details man wie zeigen will, dann ein Zeitmaß für den jeweiligen Raum zu bestimmen: Alles kommt da zusammen. Danach richten sich dann das Tempo, die Tongebung, die Artikulation, das dynamische Spektrum usw.. Wenn wir zum Beispiel Aufnahmen von Karajan aus den 80er-Jahren anhören, dann wird dort mit sattem und mit großem, warmem Ton gespielt, und mit viel Vibrato. Inzwischen gibt es eher die Tendenz, fast ganz ohne Vibrato zu spielen, also ohne den Ton zu versüßen, sondern ihn ganz pur und schlank zu spielen und die Töne auch so hörbar zu machen, dass man Reibungen hervorhebt. Und zwischen diesen beiden Polen bewegt sich unglaublich viel: Also zwischen einer sehr klaren, transparenten Spielweise oder einer emotional warmen, eher überschwänglichen Spielweise. Heute wissen wir mehr darüber, wie zu Mozarts Zeiten gespielt wurde als in den 80er-Jahren. Es beeinflusst also unsere Entscheidungen. Und trotzdem spielen wir nicht alle gleich, weil es unterschiedliche Gewichtungen, gelernte Traditionen, Lebenserfahrungen und Sichtweisen gibt.

Das Gespräch führte Anina Pommerenke.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Konzert | 13.02.2023 | 20:00 Uhr

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