Koloniales Erbe: Uni Göttingen prüft Herkunft menschlicher Überreste

Stand: 29.09.2022 06:00 Uhr

An der Universität Göttingen lagern Überreste von mindestens 1.400 Menschen - die meisten Überreste stammen aus Afrika und Ozeanien. Das Projekt "Sensible Provenienzen" soll aufdecken unter welchen Umständen die Knochen nach Göttingen kamen.

von Sebastian Vesper

Die menschlichen Überreste wurden lange Zeit als Lehrmittel in der Human-Anthropologie genutzt. Im Projekt "Sensible Provenienzen" erforschen jetzt erstmals Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus den Herkunftsländern die Ursprünge der menschlichen Überreste. "Das was Jahrhunderte bis Jahrzehnte lang Forschungsmaterial war, wird jetzt vom Objekt wieder zum Subjekt geführt", sagt die Göttinger Kulturanthropologin Regina Bendix.

Provenienzforschung war lange Zeit nicht möglich

Mikael Assilkinga © Screenshot
Mikael Assilkinga arbeitete bereits an zahlreichen deutschen Universitäten: Unter anderem in Berlin und Düsseldorf.

Der Kameruner Mikael Assilkinga ist Experte für die deutschen Kolonialgeschichte und seit August bei dem Göttinger Forschungsprojekt dabei. Er ist einer von zwölf Gastwissenschaftlern aus afrikanischen und ozeanischen Ländern. Assilkinga erforscht die kamerunischen Schädel in den Göttinger Sammlungen, mit denen sich vor ihm noch niemand wirklich beschäftigt hatte. "Es ist wenig bekannt, weil die deutschen Institutionen ihre Türen für Menschen aus diesen Ländern verschlossen hatten. Selbst heute können wir ohne Einladung nicht nachsehen, was in den Kisten der Museen und Sammlungen liegt." Auch in Kamerun habe es bisher kein Interesse an den Überresten gegeben, weil darüber bisher so wenig bekannt war, sagt er.

Knochen in europäischen Beständen fast immer auf koloniale Gewalt zurückzuführen

Vor seiner Arbeit mit den Schädeln hat Assilkinga die Provenienz von Kulturgütern erforscht. Er und auch andere Forscher sehen große Unterschiede bei der Arbeit mit historischen Artefakten und menschlichen Überresten. "Objekte können verschenkt worden sein", erläutert Assilkinga. "Aber im Fall von menschlichen Überresten gibt es immer einen Zusammenhang mit Tötungen oder geraubten Gräbern: Das ist immer koloniale Gewalt."

Zehn Schädel von Menschen aus Kamerun konnte Assilkinga in den Göttinger Sammlungen bisher finden. Nun versucht er zu ermitteln, welchem Stamm sie angehörten. Dafür geht es ins Archiv. Assilkinga durchforstet die historischen Notizen zu den Schädeln. Viel Arbeit, die lange dauert. Er findet, das dreimonatige Stipendium sei zu kurz, um die Herkunft genau zu bestimmen. "Provenienzforschung dauert sehr lange. Manchmal arbeitet man zehn Jahre an einem Fall und am Ende gibt es kein Resultat", schildert der Wissenschaftler. "Es ist wichtig, zu forschen. Und auch wenn man zu keinem genauen Resultat kommt, sollten die Überreste der Vorfahren trotzdem zurückgegeben werden."

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Prof. Dr. Regina Bendix Professorin am Institut für Kulturanthropologie/ Europäische Ethnologie der Universität in Göttingen © Sandra Eckardt/ Uni Göttingen Foto: Sandra Eckardt / Uni Göttingen
Regina Bendix ist Professorin am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Uni Göttingen.

Sein Ziel ist es, die Überreste der Menschen zurück nach Kamerun zu bringen. Auch wenn keine genaue Region oder ein Stamm gefunden wird. Wenn er die Herkunft der geraubten Gebeine besser erforscht hat, dann könnten die jeweiligen Stämme entscheiden, wie sie die Toten begraben wollen. Von den Erkenntnissen der Gastwissenschaftler profitiere auch die deutsche Forschung. "Jeder bereichert das Projekt auf sehr unterschiedlicher Weise, weil auch die koloniale und die postkoloniale Geschichte dieser Regionen unterschiedlich ist", sagt die Göttinger Professorin Regina Bendix.

Im Rahmen des Forschungsprojekt konnte bisher nur die Herkunft von 100 der über 1.400 Gebeine in den Göttinger Sammlungen ermitteln werden. Bis Mitte 2023 läuft das Projekt "Sensible Provenienzen" noch. Die Herkunft aller Gebeine wird bis dahin nicht geklärt werden können.

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