Zwischen Horror und Humor

Lovecraft Country, das wissen Leser von Schauergeschichten, liegt irgendwo in Massachusetts. In diese Gegend verschlägt es Atticus Turner, den farbigen Helden von Matt Ruffs Roman "Lovecraft Country". Atticus ist auf der Suche nach seinem Vater, der sich in Ardham, einem kleinen Ort, der nicht von ungefähr an die Geschichten von Horrormeister H.P. Lovecraft erinnert, aufhalten soll. Der größere Schrecken, mit dem sich Atticus befassen muss, liegt aber in der Rassentrennung und dem weit verbreiteten Rassismus der 1950er-Jahre begründet. Schon kurz nachdem er und seine Reisegefährten in der verschlafenen Ortschaft ankommen, werden sie vom dortigen Sheriff gebührend in Empfang genommen:
"Was sich in den nächsten Augenblicken abspielte, war George und Atticus schrecklich vertraut: Man befahl ihnen, aus dem Wagen zu steigen, sie wurden geschlagen, angeschrien, durchsucht, erneut geschlagen, zum Schluss wieder an die Rückseite des Packard geführt, wo sie sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen und gekreuzten Beinen auf die Stoßstange setzen mussten." Leseprobe
Kritik am verstecken Rassismus in Horrorfilmen
In Ardham stößt Atticus bald auf seinen Vater und auf eine weitere böse Überraschung: Sein Großvater, über den in der Familie nicht geredet wurde, soll nicht nur weiß gewesen sein, sondern auch eine zentrale Rolle in einem Geheimbund gespielt haben, und in dessen Fänge geraten nun seine Nachfahren. Geschickt spielt Matt Ruff mit klassischen Horrormotiven. Neben dunklen Wäldern und einsamen Herrenhäusern darf da auch ein Geisterhaus in der Großstadt nicht fehlen:
"Als sie wieder ins Haus ging, war alles ruhig. Das Ruckeln und Rumpeln hatte eine Viertelstunde gedauert, bevor es plötzlich aufhörte und ein flaues Gefühl hinterließ, als wäre das Haus eine leere Batterie. Wie lange würde es dauern, bis sie wieder aufgeladen wäre?" Leseprobe
Matt Ruffs Roman besticht zudem durch einen wunderbar warmherzigen Humor. So liefern sich Atticus und sein Vater fortlaufend Wortgefechte. Zum Beispiel darüber, welche Abenteuer- und Schauergeschichten man lesen kann und welche nicht. Denn deren Autoren sind in der Regel weiß, und Schwarze kommen in den Büchern oft schlecht weg. "Lovecraft Country" ist eine Verbeugung vor dem Genre - und zugleich eine kritische Aufarbeitung desselben:
"Meist gab es eine Menge, worüber sich streiten ließ. Edgar Rice Burroughs zum Beispiel bot mit seinen Tarzan-Geschichten eine Fülle kritisches Futter (war es überhaupt nötig, alle Probleme aufzulisten, die Montrose mit Tarzan hatte, angefangen allein schon mit seiner Grundidee?), oder seine Barsoom-Serie mit ihrem Protagonisten John Carter, der Hauptmann in der Armee von Nord-Virginia war, bevor er zum Kriegsherrn auf dem Mars wurde. 'Ein Offizier der Konföderierten?', hatte sich sein Vater empört. 'Das soll der Held sein?'" Leseprobe
Folgt eine TV-Serie?
Ruff montiert seinen Roman aus verschiedenen Spuk-Geschichten zusammen. Ursprünglich wollte er den Stoff fürs Fernsehen bearbeiten, und noch immer liest sich jedes Kapitel wie die Folge einer modernen Serie. Kein Wunder, dass sich der amerikanische Bezahlsender HBO die Rechte an dem Roman inzwischen gesichert hat. Denn Ruff entwickelt seine Figuren konsequent weiter und treibt mit jedem Kapitel die Handlung voran. In einer der besten Geschichten des Romans darf Ruby, die das bereits erwähnte Geisterhaus gekauft hat, durch ein magisches Elixier weiß werden. Jekyll und Hyde lassen grüßen - nur eben im amerikanischen Kontext der 50er-Jahre:
"Wieder draußen auf der Straße, bemerkte sie bald, dass auch die Passanten anders auf sie reagierten. Zahlreiche Weiße, vor allem Männer, lächelten ihr im Vorbeigehen zu, doch wirklich bemerkenswert war, dass die Leute, die sie ignorierten, sie anders ignorierten, als sie es bei Ruby getan hätten. Jetzt gab es keine schrägen Seitenblicke, niemand tat so, als würde er sie nicht sehen, während er sich gleichzeitig fragte, was sie im Schilde führte." Leseprobe
Von Kapitel zu Kapitel vollzieht "Lovecraft Country" auch die Entwicklung des gesamten Genres nach. Der Roman beginnt auf dem Land und bringt das Grauen dann in die Großstadt. Auf diese Weise entsteht ein ebenso stimmungsvolles wie unheimliches Porträt Amerikas. Lovecraft Country, das weiß man am Ende des Romans, liegt nicht nur in Massachusetts. Es ist überall.
Lovecraft Country
- Seitenzahl:
- 432 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Carl Hanser Verlag
- Bestellnummer:
- 978-3-446-25820-4
- Preis:
- 24,00 €
