Schullektüre: Wenn Schüler selber wählen könnten
Erst die Klassiker, dann moderne Bücher - so sieht der Deutschunterricht heute aus. Doch kann bei Schülerinnen und Schülern so die Liebe zur Literatur geweckt werden?
Bücherschnack in der Südstadt von Hannover. Judith und Alina haben es sich in Judiths Zimmer unter einer Deckenlampe aus angehängten Notizen und Texten gemütlich gemacht, zwischen sich ein Stapel gelesener Schulliteratur. Darunter ist Juli Zehs "Corpus Delicti: Ein Prozess", der eine fiktive Gesundheitsdiktatur thematisiert. Er gefällt Judith im Moment am Besten.
Den Roman hat die 18-Jährige gerade für das kommende Schuljahr gelesen: "Das ist eines der ersten Bücher, was wir lesen, was sehr modern ist. Ich fand es beeindruckend, dass plötzlich so viel Politik mit in der Literatur drinsteckt, so moderne Politik und moderne Gedanken. Was natürlich jetzt mit Corona auch so ein bisschen zu uns passt. Ich glaube, deshalb wurde es auch mit ausgewählt." Auch bei ihrer Freundin Alina fällt die Wahl auf ein Werk, das sie erst letztes Jahr in der 12. Klasse gelesen hat. Es wurde zwar schon vor knapp 100 Jahren geschrieben, doch es gefalle ihr, weil seine Sprache beschreibend und zeitlos sei, sagt die Gymnasiastin und beginnt, einen Bandwurmsatz aus "Mario und der Zauberer" zu lesen. Thomas Manns Novelle trägt den Untertitel "Ein tragisches Reiseerlebnis".
Mehr auf die Welt von Teenagern eingehen
Sich in unbekannte Umgebungen, aber auch in fremde, innere Welten hineinzuversetzen, das soll die Literatur im Deutschunterricht unter anderem vermitteln. Dass dabei Textsorten vom Gedicht bis zum Drama durchgenommen werden, gehört zur Analyse des geschriebenen Wortes. Doch nicht jedem liegt der Ritt durch die Jahrhunderte und ihrer Literatur, sagt Alina: "Ich glaube grundsätzlich, man startet mit Kinderbüchern. Also ich erinnere mich noch an die Vorstadtkrokodile auf jeden Fall. Und dann hat man aber relativ viele Jahre - ich weiß nicht 7., 8., 9., 10. Klasse vielleicht - alte Bücher und Dramen. Und ich habe das Gefühl, dass man da viele Schüler verliert, so auf dem Weg."
Oder man macht es so wie ihre Deutschlehrerin in der vierten Klasse in der Grundschule, sagt Alina. Sie hätten sich Bücher wünschen dürfen, dann sei abgestimmt worden und zu Beginn der Deutschstunde habe ihre damalige Klassenlehrerin immer so fünf bis zehn Minuten vorgelesen. Das habe auch noch den Mitschülern aus der letzten Reihe abgeholt. Eine andere Idee wäre, Texte auszuwählen, die mehr auf die Welt von Teenagern eingehen, sagt Judith: "Ich glaube, dass es für jüngere Menschen eigentlich immer gut ist, wenn sie Sachen lesen, die sie irgendwie mitnehmen. Das kann vielleicht ein Liebesroman sein. Das kann aber auch ein Fantasy-Buch sein. Da finde ich, gibt es oft auch wahnsinnig interessante, gut geschriebene Bücher, mit denen man Literatur näherbringen kann und auch lernen kann." Und so machen sie es sich wieder gemütlich - unter der Lampe mit den angehängten Notizen und Zetteln.