Ein Mädchen umgreift einen hohen Stapel mit Büchern. © Fotolia Foto: photophonie

Schullektüre: Gemischte Erinnerungen an den Deutschunterricht

Stand: 27.08.2022 07:13 Uhr

Die Meinungen über die gelesene Lektüre im Deutschunterricht gehen auseinander - so auch in der NDR Kultur Literaturredaktion.

Schuljahresbeginn im Norden: jetzt werden in Mathe wieder allerorten Formeln gebüffelt, in Englisch Vokabeln gelernt und - kaum besser! - in Deutsch diese verfluchten Klassiker durchgenommen. Unvermeidlich, aber manchmal auch wirklich großartig. Wir haben in der Literaturredaktion mal nachgefragt: "Wie war's denn bei dir mit der Schullektüre?" Die Reaktionen waren überraschend vielfältig.

"Demian" von Hermann Hesse

Eine Seite aus Hermann Hesses "Demian" mit einigen Bleistiftnotizen, vor allem Unterstreichungen, Durchstreichungen und Ausrufezeichen © NDR
"Demian" hat den 17-jährigen Alexander Solloch nicht zum Hesse-Fan gemacht.

Alexander Solloch: Wenn mein Deutschlehrer damals die Absicht hatte, uns spätpubertierende 17-Jährige in Zukunft von übermäßiger Hermann Hesse-Lektüre abzuhalten - dann immerhin hat er seine Mission erfüllt: Wir lasen also "Demian" und waren wochenlang diesem unglaublich gefühlsüberladenen Erlösungskitsch hilflos ausgeliefert.

Seitdem habe ich aus Angst vor literarischer Überzuckerung keinen Hesse-Text mehr in die Hand nehmen können. Wohl erfuhr ich später interessiert, dass die Liebe meines Leselebens, Kurt Tucholsky, ein großer Hesse-Bewunderer war; aber das änderte dann auch nichts mehr: die Schule hat ihn mir für immer verleidet. Oder ist Hesse selbst schuld? "Ihre Stimme war warm und tief, ich trank sie wie süßen Wein" - da kriegt man doch Kopfschmerzen!

"Homo faber" von Max Frisch

Maren Ahring: Ich erinnere mich noch ziemlich gut: 9. Klasse, kurz vor den Herbstferien. Unser Deutschlehrer, oft übellaunig, immer im grünen, ausgeleierten Pulli, stellte die Aufgabe: Lest Max Frisch, lest "Homo faber" - in den Ferien. Eine Zumutung! Irgendwie quälten wir uns dann doch durch die Geschichte von "Homo laber" - wie es schnell bei uns genannt wurde. Ein schreckliches Buch - da konnte es keine zwei Meinungen geben.

Aber dann passierte im Unterricht das Unglaubliche: Unser Deutschlehrer schaffte es mit Gruppenarbeit und Beharrlichkeit, uns von dem Buch zu überzeugen. Die Frage nach "Zufall" oder "Schicksal" traf unseren Nerv der Zeit. Seine Begeisterung färbte auf uns ab. Seine Neugier weckte unsere. "Homo faber" ist nach all den Jahren zwar nicht mein Lieblingsbuch geblieben. Aber immer wenn ich das zerfledderte, blaue Taschenbuch aus dem Regal ziehe, denke ich an meinen ehemaligen Deutschlehrer. Danke, Herr Westphal, für diese einzigartige Erfahrung!

"Don Carlos, Infant von Spanien" von Friedrich Schiller

Notizen des Schülers Jürgen Deppe in seiner Ausgabe von Schillers "Don Carlos" © NDR
Der Grund für Jürgen Deppes jahrelange Schiller-Feindschaft? "Don Carlos, Infant von Spanien".

Jürgen Deppe: Ich verdanke meine jahrelange tiefe Schiller-Feindschaft Don Carlos, dem "Infant von Spanien". Also nicht dem spanischen Kronprinzen persönlich, der hat ja schon im 16. Jahrhundert gelebt und kann nichts dafür. Und vielleicht nicht einmal Friedrich Schiller, auch wenn dem die verschraubte Verssprache anzukreiden ist, in der die verzopfte Liebes-Intrige am spanischen Hofe erzählt ist. Wenn man uns Zehnt- oder Elftklässlern damals von dem Stürmer und Dränger Friedrich Schiller erzählt hätte, dem Revoluzzer aus Weimar, ja, das hätte wahrscheinlich verfangen.

Stürmer und Dränger waren wir ja auch. Fanden wir zumindest. So im Kleinstadtformat. Mir Pubertier in der Provinz hätte "Geben sie Gedankenfreiheit, Sire!" ja vielleicht noch aus der Seele gesprochen. Aber so verschnarcht und verstaubt? Nö! Es hat viele, viele Jahre und etliche Theaterbesuche gedauert, bis ich die Schullektüre endlich verdaut hatte und mich langsam mit dem Schiller-Fritz anfreunden konnte, dem alten Räuber! Ich denke wir haben mittlerweile Frieden geschlossen.

"Mutmaßungen über Jakob" von Uwe Johnson

Anna Hartwich: Abiturjahrgang 1978, West-Berlin. Vom geteilten Deutschland verstanden wir ja ein bisschen was, dort waren wir hineingeboren. Aber nun das: Wir lesen im Deutsch-Leistungskurs "Mutmaßungen über Jakob" von Uwe Johnson, die uns zunächst sehr düster und abstrus erscheinende Geschichte über den Eisenbahner Jakob, der im Nebel von einer Lokomotive zerquetscht wird. Oh je!

Anna Hartwichs Ausgabe von Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" © NDR
Mühsam, aber am Ende hat es sich für Anna Hartwich gelohnt: "Mutmaßungen über Jakob" von Uwe Johnson.

Diese Mosaiktechnik, die zersplitterte Erzählweise, die Montage aus vielen Stimmen: Wer redet da jetzt? Ist das jetzt Jöche, Jakob oder Jonas? Vielleicht auch Rohlfs oder Gesine? Und was man daran alles lernen sollte! Innere Monologe, Parataxe, auktoriale Erzählweise! Es war wirklich mühsam - aber der Deutschlehrer war gut, und irgendwann lichtete sich das Dunkel. Zum Vorschein kam ein faszinierendes Buch, das mit uns zu tun hatte und mit unserer deutsch-deutschen Welt - und an dem ich viel über Literatur gelernt habe.

"Auf der Galerie" von Franz Kafka

Joachim Dicks: Was für ein Auftritt! Wir sind in der siebten Klasse. Ein neuer Deutschlehrer kommt in den Klassenraum, setzt sich ganz leger auf den Tisch, lässt die Beine baumeln und beginnt, ohne Grußwort, einen Text vorzutragen mit dem Titel "Auf der Galerie" von Franz Kafka. Während der neue seine Stimme erklingen lässt und die Augen weit aufreißt und mit wild durch die Lüfte wirbelnden Armen gestikuliert, setzt er jeden einzelnen Gesichtsmuskel in Bewegung, so dass es aussieht, als habe er Zuckungen. Wir Schüler sind irritiert, blicken uns an und können uns das Lachen kaum verkneifen, während die hinfällige lungensüchtige Kunstreiterin, von der im Kafka-Text die Rede ist, von einem jungen Galeriebesucher gerettet wird.

Dann kommt der zweite Satz. Noch einmal setzt der Lehrer an. Seine Stimme klingt nun weniger gedrückt, eher heiter, fast zuversichtlich. Bis am Ende der Galeriebesucher weint, "ohne es zu wissen". Wahrscheinlich vor Glück. Die ganze Szene hat vielleicht fünf Minuten gedauert; fünf Minuten, in denen sich die Pforten zum Kafka-Kosmos geöffnet haben. Dafür bin ich bis heute dankbar.

"Emilia Galotti" von Gotthold Ephraim Lessing und allerlei andere Literatur

Das Foto zeigt die Notizen der Schülerin Katharina Mahrenholtz in ihrer Ausgabe von "Emilia Galotti" von Gotthold Ephraim Lessing. © NDR
Katharina Mahrenholtz hat sich als Schülerin vor allem für die Hintergründe der Literatur interessiert.

Katharina Mahrenholtz: Es gab solche und solche. "Sansibar oder der letzte Grund", "Kleider machen Leute", "Woyzeck" und die Kurzgeschichten von Wolfgang Borchert: fand ich damals schrecklich. Vor allem, weil wir solange daran rumgelesen haben. "Emilia Galotti", "Kabale und Liebe", "Wilhelm Tell" - einerseits befremdlich, aber auch interessant. "Homo Faber", Hemingway, Shakespeare - großartig.

Aber eigentlich habe ich in der Schule immer lieber Königs Erläuterungen gelesen als das eigentliche Werk. Mich haben die Hintergrundinformationen zu den Autoren interessiert und die Details, die man aus den Texten rauslesen und reininterpretieren konnte. Das war wie eine literarische Schnitzeljagd, ein Puzzle. Im Rückblick bin ich froh über jeden Klassiker, den wir in der Schule lesen mussten - von allein hätte ich sicher kein Reclamheft aufgeblättert, um in 8-Punkt-Schrift ein Drama aus dem 18. Jahrhundert zu lesen. Und dann hätte mir was gefehlt. Wirklich.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 27.08.2022 | 06:20 Uhr

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