Jaroslav Rudiš © Peter von Felbert
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AUDIO: Jaroslav Rudiš: Weihnachten in Prag (55 Min)

Jaroslav Rudiš: Große Leidenschaft für Reisen mit dem Zug

Stand: 22.12.2023 08:00 Uhr

Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš ist fasziniert von Zügen. Auch seine persönliche Weihnachtsgeschichte hat etwas mit dem Zug und dem Prager Hauptbahnhof zu tun, erzählt er uns im Interview.

Jaroslav Rudiš flaniert durch Prag: Es ist Heiligabend, Weihnachten, der Schnee überdeckt die Straßen. Es ist kalt, still und einsam. Weil die Stadt zwar leer, aber voller Geschichten ist, begegnet Rudiš den Figuren in Prag. Sie erzählen von Weihnachten, von leuchtenden Birnen, Karpfen in Gurkengläsern und vom Christuskind. In "NDR Kultur à la carte" spricht der passionierte Eisenbahnfahrer über das Spazierengehen, über Prag, Kafka und seine persönliche Weihnachtsgeschichte. Martina Kothe hat sich mit dem Schriftsteller außerdem über sein neues Buch "Weihnachten in Prag" unterhalten. Das Gespräch wurde vor ein paar Tagen in Berlin aufgenommen, also noch vor dem Amoklauf in Prag.

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Was würden Sie sagen, ist das Faszinierende an der Eisenbahn für Menschen? Ist es das Zugucken, wie die Züge fahren? Ist es das Drinsitzen? Oder ist es die merkwürdige Zwischenwelt, in der man sich befindet? Wenn man in die Züge schaut, ist es immer so etwas wie nachts ins Fenster gucken. Da sind überall andere Leben, die an einem vorbeiziehen.

Jaroslav Rudiš: Zwischenwelt ist wirklich ein wunderschönes Wort, das muss ich mir merken, denn das passt ganz gut. Es geht auch um eine Zwischenwelt zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Wenn ich mit dem Zug reise, ist es für mich eine geschichtliche Reise. So nennen wir Eisenbahn-Menschen das. Für uns ist wichtig, dass man auf Umwegen zum Beispiel von Berlin nach Hannover oder Hamburg fährt. Ich steige gerne nochmal woanders aus, oder nehme die Linie über Stendal und Uelzen und fahre so von Hamburg nach Berlin. Das macht Spaß. Allein diese Reise ist schon eine historische Reise, denn diese Verbindung dauert länger. Es war mal eine ganz wichtige Linie. Heutzutage ist das teilweise eine Lokalbahn. Das ist herrlich.

Das ist das, was mich an der Eisenbahn fasziniert, diese Geschichten über die große Geschichte, die europäische Geschichte, die uns die Eisenbahn erzählt. Sie verbindet auch Vieles. Ich bin in der Zeit vor der Wende groß geworden und als ich klein war, konnte ich nur davon träumen, dass ich mal mit dem Zug nach Hamburg oder Rom fahre. Heutzutage ist das möglich, aber schon damals war das in meiner Fantasie möglich. Ich hatte Fahrpläne, Kursbücher und Eisenbahnkarten, die haben mich fasziniert. In diesen Karten und Fahrplänen konnte ich in der Tat verreisen, obwohl es nicht möglich war. Deshalb haben die Kursbücher und Fahrpläne einen großen Platz in meiner Bibliothek. Für mich ist es tatsächlich eine großartige und historische Literatur.

Bald ist Weihnachten und darum geht es auch in Ihrem jüngsten Buch "Weihnachten in Prag". Weihnachten ist auch immer ein Ausnahmezustand. Der Erwartungsdruck ist riesig, man reist, man kocht, man backt, man macht Verwandtenbesuche oder hat die Verwandten bei sich zu Hause. Das Schöne an Ihrem Buch ist, dass dieser Erwartungsdruck mit einem kleinen Umstand weggewischt wird. Denn die Freunde, mit denen sich der Protagonist in Prag treffen möchte, die melden sich einfach nicht. Also muss er irgendwie improvisieren, zieht los und erinnert sich daran, wie er als Sechsjähriger einmal am Prager Bahnhof verloren ging. Das ist Ihnen auch passiert.

Jaroslav Rudiš: Das stimmt tatsächlich, das war kurz vor Weihnachten. Ich war mit meinem Vater in Prag. Wir sind aus dem böhmischen Paradies mit der Eisenbahn in eine Großstadt gefahren, in die Hauptstadt nach Prag. Kurz vor der Abfahrt des Zuges zurück nach Hause wollte mein Vater noch zwei Brötchen, Würstchen, für sich ein Bier und für mich eine tschechische Cola holen. Er sagte zu mir: 'Junge, warte hier, ich bin gleich wieder da.' Ich habe nicht gewartet, weil ich damals schon von der Lokomotive fasziniert war. Ich habe eine Lok angeschaut und der Lokführer hat sie mir gezeigt. Der hat mich tatsächlich nach oben gebracht und hat mir den Führerstand gezeigt. Das war schon großartig, allein diese Sicht auf den Prager Hauptbahnhof.

Diese Lokführerperspektive ist atemberaubend, der Prager Hauptbahnhof ist wirklich der schönste tschechische Bahnhof und auch der größte. Ich glaube, der zählt auch zu den schönsten europäischen Bahnhöfen, so wie Antwerpen Zentral, die Pariser oder die Budapester Bahnhöfe. Es ist einfach ein Stück Kunstgeschichte, die wahre Kathedrale des Verkehrs, wie man auch manchmal sagt. Diese Geschichte wollte ich immer aufschreiben. Das hat jetzt gut gepasst.

Das Gespräch führte Martina Kothe.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur à la carte | 22.12.2023 | 13:00 Uhr

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