Stand: 05.01.2016 11:29 Uhr

Triumph der Trägheit

In 25 Folgen der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Iwan A. Gontscharows "Oblomow".

Von Hanjo Kesting

Der russische Schriftsteller Iwan Alexandrowitsch Gontscharow  Foto: Porträtaufnahme (Albuminabzug), 1873, von Charles (Karl) Bergamasco (1830- 1896)
Der russische Schriftsteller Iwan Alexandrowitsch Gontscharow lebte von 1812 bis 1891 (hier in einer Aufnahme von 1873).

Iwan Gontscharow, der große russische Romanschriftsteller, stand immer etwas im Schatten seiner Zeitgenossen Turgenjew, Tolstoi und Dostojewski. Er hat drei bedeutende Romane geschrieben, aber nur der mittlere von ihnen, "Oblomow" aus dem Jahr 1859, hat bei uns einen gewissen Ruhm erlangt. Mit Blick auf das Gesamtwerk von Gontscharow erscheint diese Bevorzugung nicht ganz gerecht, aber das Kollektivbewusstsein, das zur Vereinfachung neigt, identifiziert selbst die größten Autoren mit einem einzelnen Hauptwerk: So ist Cervantes der Autor des "Don Quijote", Melville der Autor des "Moby Dick", und so ist Gontscharow eben der Autor des "Oblomow". Ganz falsch ist die Zuschreibung nicht. Denn der Titelheld des Buches, ein Petersburger Aristokrat, der von der Arbeit seiner leibeigenen Bauern lebt, steht für einen bestimmten Typus, eine bestimmte Haltung, nämlich für die von der Tagträumerei zur Trägheit neigende Lethargie, in der die erhabenen Aufschwünge des Geistes so gut wie die sentimentale Begeisterung des Herzens bei weichen Seelen versinken.

"Oblomowerei" wird zur Formel für ein Wesensmerkmal des russischen Volkscharakters

Ilja Iljitsch Oblomow ist die radikalste Ausprägung der Figur des "überflüssigen Menschen", die die russische Literatur des 19. Jahrhunderts wie ein Grundthema durchzieht. Er verkörpert die Schlafrockexistenz auf dem Kanapee, den Triumph der Trägheit, das Genie der Langeweile. Sogar seine große Liebe zu einer schönen jungen Frau gibt er aus Trägheit preis. Dass man nicht nur an einem harten Felsen, sondern auch an daunenweicher Trägheit schmerzhaft scheitern kann, dafür ist Oblomow ein grandioses, zugleich aber tief bedrückendes Beispiel. Er ist zwar gut, klug, zärtlich und edelmütig, und das sichert ihm die Teilnahme des Lesers. Aber unter diesen guten Eigenschaften öffnet sich ein tiefer Abgrund, der alle Energien - Liebe, Freundschaft, Mitleid, Hilfsbereitschaft - mühelos verschlingt. So ist Oblomow in all seiner Harmlosigkeit auch ein unheimlicher Geselle. Und so wurde "Oblomowschtschina", Oblomowerei, zur feststehenden Formel für ein Wesensmerkmal des russischen Volkscharakters: seine Untätigkeit, sein Beharrungsvermögen - das Hindernis jedweden Fortschritts.

Viele Lesarten des Romans

Das Buch wurde bei seinem Erscheinen in ganz Russland gelesen und diskutiert. Hatte der Autor seinen Landsleuten einen Spiegel vorgehalten? Wollte er Russland aus dem Schlaf rütteln? Ein Tribunal errichten über die parasitäre Existenzform eines müßiggängerischen Landadels? Oder ist Oblomow ganz einfach ein pathologischer Sonderfall? Über solche Fragen wurde seither eine ganze Bibliothek widerstreitender Interpretationen zusammengeschrieben. Glücklicherweise gibt es keine eindeutige Lesart des Buches, denn Gontscharow hat sein Meisterwerk nicht um einer Quintessenz willen geschrieben. Eben darauf beruht ja der unerschöpfliche Reiz des Buches, eben das begründet unser Leseinteresse - bis heute. Fortschrittsskeptiker werden Oblomow mit anderen Augen lesen als unverdrossene Vollstrecker des Aktivitätskommandos. Sicher aber wird man das Kapitel "Oblomows Traum", das im Zentrum des Buches steht und seine Keimzelle bildet, als psychologischen Archetypus verstehen müssen, als Traum vom verlorenen Paradies der Kindheit, der das Verlangen nährt, noch einmal in die mütterliche Welt einzutauchen, inmitten einer Epoche blanker Fortschrittsgewissheit.

Gontscharow selbst hat über eine rätselhafte, bisher noch nicht erklärte, aber interessante Erscheinung im Gebiet des Schaffens nachgedacht, nämlich "unsere geistige Verwandtschaft mit den als Erbe überkommenen, von Künstlern erschaffenen Typen" - von Odysseus über Hamlet und Faust bis zu Robinson Crusoe. "Diese Welt der erschaffenen Typen" schrieb er, "besitzt gleichsam ihr eigenes Leben, ihre Geschichte, ihre Geographie und Ethnographie und wird sicher einmal zum Gegenstand interessanter historisch-philosophisch-kritischer Untersuchungen gemacht werden." Mit Oblomow hat Gontscharow dieser "Welt der erschaffenen Typen" einen weiteren Grundtypus hinzugefügt.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur Wissen | 25.02.2016 | 15:20 Uhr

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