Der spätentdeckte Roman von Siegfried Lenz
Dass der bescheidene Siegfried Lenz nach seinem Tod noch einmal für Medienrummel sorgen würde, hätte niemand für möglich gehalten. Doch 2015 tauchte in seinem Nachlass das Schreibmaschinenmanuskript eines frühen Romans auf: "Der Überläufer".
Es spielt an der Ostfront am Ende des Zweiten Weltk-rieges. Geschrieben hat Lenz den Roman 1951 nach Erscheinen seines Erstlings "Es waren Habichte in der Luft". Veröffentlicht wurde das Buch erst posthum im Februar 2016. NDR Kultur hat das Buch damals besprochen.

Eigentlich hätte "Der Überläufer" 1952 erscheinen sollen. Das Manuskript lag vor, Siegfried Lenz hatte es auf Anraten seines Lektors sogar noch einmal gründlich überarbeitet, aber dann zog der Verlag seine Zusage zurück. Aus "stofflichen Gründen", wie es etwas verklausuliert hieß.
Es waren politische Gründe. Denn im Mittelpunkt steht ein Überläufer: Walter Proska, ein junger Soldat der deutschen Wehrmacht, der im Kampf gegen die Partisanen an der Ostfront die Seiten wechselt und sich der Roten Armee anschließt.
In einer zentralen Passage des Romans erzählt Siegfried Lenz, wie Walter mit sich ringt. Er sei ein Judas, beschimpft er seinen Kameraden Wolfgang, der bereits übergelaufen ist.
Ja, sagte Wolfgang, ich bin ein Judas. Und ich bin es deinetwegen geworden. Ich bin fortgerannt, weil ich dich nicht beeinflussen wollte. Wenn es auch den Anschein haben mag, dass ich den anderen durch meinen Verrat Schaden bringe, so wird es sich eines Tages doch zeigen, dass ich es schließlich um ihres Glückes wegen getan habe. Du kennst mich doch, Walter, und du darfst gewiss sein, dass mein Schritt einen größeren Nutzen als Schaden bringen wird. Weil ich Mitleid mit ihnen habe, darum verriet ich sie. Leseprobe
"Der Überläufer": Zwischen Klischee und Engagement
Walter lässt sich schließlich von Wolfgang und dessen "aktivem Pazifismus" überzeugen. Mit ihm hat Siegfried Lenz einen Gegenspieler zu seiner eher schlichten Hauptfigur Walter geschaffen. Wolfgang ist der Intellektuelle, von der Truppe wegen seiner zarten körperlichen Konstitution nur abfällig "Milchbrötchen" genannt.
Die Klugen sind eben ängstlich und schwach, Lenz bedient etliche Klischees. Es gibt schiefe Bilder, Pathos und expressionistischen Überschwang, aber auch farbige Landschaftsbeschreibungen und originelle Porträts. Lenz war 1952 erst 26 Jahre alt und man spürt sein Engagement.
"Der Überläufer" ist ein Antikriegsroman, der offensiv die Schuldfrage thematisiert und das Dilemma schildert, in dem die Soldaten auf beiden Seiten der Front stehen. Der Krieg verlangt, dass Menschen einander töten. Walter leidet daran, dass er abdrücken muss, wenn er selbst überleben will, egal auf welcher Seite er steht. Aber auch daran lässt Lenz keinen Zweifel: Die "abscheuliche Klicke" - so nennt er die Nationalsozialisten - muss weg.
Lenz appelliert an den Mut zur Verantwortung
Doch was bedeutet das für den einzelnen Menschen, wenn er dafür tötet, fragt er? Macht er sich damit schuldig? Lenz spitzt den Konflikt zu, indem er Walter, als Überläufer auf Seiten der Roten Armee, seinen Schwager erschießen lässt.
Er erzählt die Geschichte aus der Nachkriegsperspektive, als sich viele Deutsche weigerten, Verantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit zu übernehmen. Schweigen und Vergessen hieß ihre Devise. Mit seinem Roman "Der Überläufer" protestiert der 26-jährige Siegfried Lenz gegen diese Haltung. Walter Proska erinnert sich und findet den Mut, seiner Schwester zu beichten, dass er es war, der sie zur Witwe gemacht hat. Ein berührendes Buch.
Der Überläufer
- Seitenzahl:
- 368 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hoffmann und Campe
- Veröffentlichungsdatum:
- 27.02.2016
- Bestellnummer:
- 978-3-455-40570-5
- Preis:
- 25,00 €
