Antanas Sutkus: "Children" (Cover) © Steidl Verlag Foto: Antanas Sutkus

Antanas Sutkus' historische Kinderfotografien im Band "Children"

Stand: 16.12.2021 12:51 Uhr

Ein bekanntes Foto von Jean-Paul Sartre von Antanas Sutkus zeigt ihn im dunklem Mantel auf dem hellen Dünensand der Kurischen Nehrung. In "Children" dokumentiert Sutkus das Leben von Kindern in der damaligen Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik.

von Juliane Bergmann

Markenzeichen dieses Fotografen sind aber nicht seine berühmten Modelle, sondern seine dokumentarischen Aufnahmen des Alltags und der Bevölkerung. Jetzt ist ein neuer Bildband von ihm erschienen, der sich den Kleinsten widmet: "Children".

Eine Straßenszene: Kopfsteinpflaster voller Lücken, definitiv holprig. Zwei Mädchen und fünf Jungs hocken um eine gehwegbreite Pfütze. Sie sind im Kindergarten-Alter. Gebannt schaut die Bande auf die Wasseroberfläche in ihrer Mitte. Kurz vorher muss etwas ins Wasser geplumpst sein. Zu sehen sind noch die kleinen Kreise, die der Aufprall erzeugt hat. Ein Junge mit Baskenmütze hält sich nachdenklich das Kinn - die weltmännische Geste eines Fünfjährigen. Fasziniert von den kleinen Dingen - einer bebenden Pfütze. So gefesselt, so wach. Das können Kinder.

Kinder und ihre Sicht auf die Welt

Es ist der klare, ungefilterte Blick, für den der litauische Fotograf Antanas Sutkus bekannt geworden ist. In den 1960er- Jahren begann er, das Leben in der damaligen Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik in Schwarz-Weiß-Aufnahmen zu dokumentieren. Tristesse und Mutlosigkeit hat sich in die Gesichter der Erwachsenen gegraben. Sein Bildband "Children" widmet sich derselben Zeit, demselben Land, zeigt aber eine andere Perspektive: Kinder und ihre Sicht auf die Welt.

Mit Schmollmund lehnt ein Mädchen an einem Schaufenster. In der Auslage: Plüschteddys. Lässig hat die Kleine ihre Hände in den Hosentaschen, resigniert darüber, dass sie ohne Bär nach Hause gehen muss. Ein Foto daneben zeigt einen vorbeifahrenden Linienbus. Aus dem Fenster schaut ein Rabauke mit Schirmmütze, der das gelangweilte Gesicht auf die angewinkelten Arme stemmt. Wortlos beanstandet er die Ödnis des Moments. Ein paar Seiten weiter ist eine Schneeballschlacht zu sehen. Zwei Jungs, schreiend, lachend. Einer formt in seinen Fäustlingen das nächste weiße Geschoss. Der Fotograf mussa den Kindern auf Augenhöhe begegnet sein.

Erfrischend sind die echten Gefühle auf den Aufnahmen

Viele der Fotos haben etwas Zeitloses. Das Spielen, das Lachen, die Gemeinschaft der Kinder. Und dann wieder gibt es die eindeutig historischen Dokumente, die von der Enge des sozialistischen Systems erzählen. Neben den Militärparaden und singenden Pionieren zeigen sie den politisch eingefärbten Alltag: Sechs Schülerinnen und Schüler stehen an der Wand einer Turnhalle. Alle halten einen kleinen Medizinball in den ausgestreckten Händen. Streng überblickt Lenin, der Begründer der Sowjetunion, als großes Relief an der Wand ihre sportlichen Erfolge.

"Am Nachmittag spielten wir draußen auf dem Spielplatz, das ganze Gelände war von einem Zaun umgeben, einem Metallgitter", erinnert sich der Autor Wladimir Kaminer im Vorwort an seine eigene Kindheit in der Sowjetunion. "Auf den Gedanken, dass es auf unserem Planeten irgendwo noch ein anderes Leben gab, andere Menschen, die frei waren, alles zu tun, wozu sie Lust hatten, auf diesen Gedanken sind wir damals nicht gekommen."

Der Fotograf hat ein beeindruckend ästhetisches Gespür

Der eigene Kosmos ist nur so groß, wie man selbst schauen kann. Alles andere bleibt unvorstellbar. Ein Kinderblick auf die Welt, der nicht sowjetisch ist, sondern universell. Überhaupt lösen sich die Fotos vom Kontext, in dem sie aufgenommen wurden. Zu sehen sind Kinder - die toben, nörgeln, scherzen. Momente, in denen sich jeder wiederfindet, der ans eigene Kindsein zurückdenkt.

Abspül-Dienst in der Schule: Zwei schüchtern guckende Mädchen in weißen Schürzen. Die Blusen-Ärmel hochgekrempelt. Jede hat einen Tisch vor sich, darauf dutzende schmutzige Blechtassen und eine Waschschüssel. Kaum können sie mit ihren kleinen Händen die großen Becher greifen.

Wirklich beeindruckend ist Sutkus' ästhetisches Gespür. Sehr strukturierte, wohlkomponierte Bilder hat er geschaffen. Auch künstlerisch ist es deshalb eine wunderbare Sammlung. Einige damals zensierte Bilder sind zum ersten Mal zu sehen. Welch ein Glück.

Der Bildband zeigt Kindheit in Litauen in vielen Facetten

Antanas Sutkus gelingt es, die vielen Facetten der litauischen Kindheit abzubilden: die Schwere und die Leichtigkeit eines längst zugeschlagenen Kapitels - das auch bei ihm Spuren hinterlassen hat.

Ich glaube, im Herzen eines jeden Menschen steht eine Kathedrale. Ich weiß nicht, wie viele davon in den Herzen der Personen, die ich fotografiert habe, zerstört wurden. Meine wurde jedenfalls niedergerissen. Gesegnet sind die Jahre barfüßiger Kindheit. Leseprobe

Ein Fotograf, der mit Pathos spricht, dessen Bilder aber in angenehmer Schlichtheit glänzen.

Children

von Antanas Sutkus
Seitenzahl:
180 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
Herausgegeben von Thomas Schirmböck, mit einem Vorwort von Wladimir Kaminer, Deutsch/Englisch/Litauisch. 160 Abbildungen, Fester Einband / Leineneinband, 23,5 x 26,5 cm
Verlag:
Steidl
Bestellnummer:
978-3958297098
Preis:
48,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 19.12.2021 | 17:40 Uhr

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