Welttag der Kinderrechte: Wachsende Not bei Familien

Stand: 20.11.2023 11:54 Uhr

Aktuellen Berechnungen zufolge lebt jedes dritte Kind in Deutschland von Sozialleistungen zur Existenzsicherung, viele sind in emotionaler und materieller Not. Oft ist das Limit erreicht, sehen die Mitarbeitenden des Kinderhauses Arche in Hamburg.

von Gesa Berg

Es fehlen die grundlegendsten Dinge, die zur Entwicklung eines Kindes gehören, manchmal sogar an Grundversorgung. Inflation und gestiegene Lebenshaltungskosten haben Kinderarmut noch einmal drastisch verschärft, in zahlreichen Familien ist der Kühlschrank am Monatsende leer.

"Ich weiß manchmal nicht, wo ich noch sparen soll"

Stephanie Timm kramt eine Plastikmünze für den Einkaufwagen aus ihrer Hosentasche und löst die Kette. Nach der Arbeit noch schnell etwas einkaufen fürs Abendessen. Sie sieht geschafft aus, auf ihren Schultern lastet viel Verantwortung, Stephanie Timm ist alleinerziehend mit drei jugendlichen Kindern. "Ich kaufe wirklich nur noch das, was wir für die Woche brauchen und nicht mehr auf Vorrat, weil das einfach momentan nicht drin ist", erzählt sie.

Weitere Informationen
Lisa Paus (Bündnis 90/Grüne) © dpa Foto: Melissa Erichsen

Bundesfamilienministerin Paus: "Kinderarmut ist nicht hinnehmbar"

Zum Weltkindertag spricht Bundesfamilienministerin Lisa Paus über Kinderrechte und die Kindergrundsicherung und deren Umsetzung. mehr

Vor dem Supermarkt, die Obstauslage: Stephanie Timm packt vier Äpfel ein und nimmt sich eine Schale von den Tomaten, die im Angebot sind. Ansonsten schaut sie nur. "Ich selber verzichte dann auf ein Stück Fleisch, damit die Kinder was haben. Oder auf einen Joghurt." Weil ihre drei Kinder sie noch brauchen, kann Stephanie Timm gerade nur in Teilzeit arbeiten. Ihr Gehalt, das sie als "Haushaltshilfe im Pflegedienst" verdient, wird mit Bürgergeld aufgestockt. "Ich weiß manchmal nicht, wo ich noch sparen soll", so Timm.

Deutschland: Jedes dritte Kind lebt von Sozialleistungen

1.000 Euro hat Stephanie Timm für ihre vierköpfige Familie monatlich zur Verfügung. Davon muss sie neben Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Kleidung alles bezahlen, was im Familienalltag so anfällt. Ein ständiges Jonglieren und trotzdem ist am Ende jeden Monats nichts übrig. "Die Situation belastet mich, dass ich immer rechnen muss: Was kostet mich das? Jetzt schaffe ich das, aber ich zeige es den Kindern halt nicht, weil ich sage, die sollen noch ein bisschen behütet aufwachsen", sagt die Mutter.

In Deutschland lebt mittlerweile jedes dritte Kind von Sozialleistungen des Staates, in Jenfeld, der Stadtteil, in dem Stephanie Timm wohnt, sogar jedes zweite. Die Preise für Lebensmittel sind gestiegen, beim Bürgergeld wurde die Inflation bisher nicht berücksichtigt. Stephanie Timm und viele andere wenden sich in ihrer Not an Hilfseinrichtungen wie das Kinderhaus Arche. Sie springen ein, wo Politik versagt.

Arche Hamburg hilft, finanziert durch Spenden

"Na, Ihr Drei", begrüßt Stephanie Timm ihre Kinder. Sie brauchen eine Unterschrift für den Nachmittagsausflug. Jan-Philipp, Steven und Laura sind drei von über 200 Kindern und Jugendlichen, die im Kinderhaus Arche in Jenfeld jeden Tag betreut werden. Es gibt: Warme Mahlzeiten, Hilfe bei den Hausaufgaben und viele Freizeitaktivitäten. Finanziert wird das aus Spenden.

"Schwimmen, alles. Wir wollen heute eigentlich heute in die Soccer-Halle gehen, jetzt ist es aber Miniaturwunderland geworden, das machen wir nächste Woche", freut sich der 15-jährige Jan-Philipp. Sein ein Jahr jüngerer Bruder Steven fügt hinzu: "Du kannst Nachhilfe kriegen in Deutsch, Mathe, Englisch und so, die können eigentlich auch ziemlich gut erklären und wollen Dir immer helfen."

Kritik der Arche: Arme Kinder bleiben arm

Eigentlich ist die Arche ein pädagogisches Projekt, aber sie muss mittlerweile vieles abfedern. Eine Kleiderkammer hat die Arche und in letzter Zeit geben sie auch immer mehr Lebensmittelpakete aus. Tobias Lucht, Leiter der Arche Hamburg, kennt von allen Kindern und Eltern die Namen. "Wir haben mal errechnet: Für ein 13-jähriges Kind stehen pro Tag 3,79 Euro für drei Mahlzeiten zur Verfügung. Da kann man sich schon ausmalen, dass da zumindest keine ausgewogene Ernährung möglich ist oder es sehr schwierig ist", erklärt Lucht.

Weitere Informationen
Der Leiter der Arche in Hamburg, Tobias Lucht.
5 Min

Arche-Chef: "Kindergrundsicherung würde Möglichkeiten eröffnen"

Aus Sicht von Tobias Lucht von der Arche Hamburg könnte die neue staatliche Leistung einen Teil des Problems lösen. Allerdings gehe es bei der Hilfe für Kinder nicht nur ums Geld. 5 Min

Die Politik will das Problem mit der neuen "Kindergrundsicherung" lösen. Doch nach dem derzeitigen Gesetzesentwurf blieben arme Kinder arm, kritisiert die Arche. Auch Stephanie Timm ist beunruhigt: "Meine größte Sorge ist einfach, dass diese Auszahlungen an die Kinder nicht wirklich kommt, aber die anderen Auszahlungen - vom Kindergeld zum Beispiel -, dass die abgestellt wird und dass man dann in der Luft hängt und dieses Geld dann wirklich weg ist. Da hab ich Angst vor."

Die Kindergrundsicherung soll erst 2025 kommen. Zeit, die Familien wie die von Stephanie Timm nicht haben, ihre Not ist jetzt.

 

Weitere Informationen
Cover des Sachbuches "Im Zweifel gegen das Kind" © Ullstein Verlag

"Im Zweifel gegen das Kind": Buch kritisiert Sorgerechtsverfahren

Familiengerichte, Jugendämter und die Polizei treten Kinderrechte immer öfter mit Füßen, schreiben die Autorinnen Jessica Reitzig und Sonja Howard. mehr

Kai Preisler © NDR Foto: screenshot
3 Min

Hamburg Ehrensache: Arche in Jenfeld

Bei der Arche in Hamburg-Jenfeld bekommen Kinder unter anderem ein warmes Essen und Hausaufgabenhilfe. Hier arbeitet Kai Preisler. 3 Min

Übermüdeter Schüler © Fotolia.com Foto: LVDESIGN
4 Min

Glosse: Kind sein in Deutschland

Ein zynischer Blick darauf, wie es derzeit ist, Kind in Deutschland zu sein. Spoiler-Alarm: Schön ist anders.  4 Min

Eine Frau schlägt in den 50ern ein Kind mit einem Teppichklopfer. © picture alliance / Presse-Bild-Poss Foto: Oscar Poss

Deutscher Kinderschutzbund wird 1953 in Hamburg gegründet

Der Verein setzt sich gegen physische und psychische Gewalt ein. Seit der Gründung am 16. November 1953 bildet er die größte Lobby für Kinder. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 20.11.2023 | 16:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Kinderbetreuung

Soziales Engagement

Sozialpolitik

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Die Hamburger Kunsthalle bei Nacht. © Museumsdienst Hamburg, Thorsten Baering

Lange Nacht der Museen: Ein Abend von Ahh! bis Ohh!

Heute Abend findet wieder die Lange Nacht der Museen in Hamburg statt. 53 Ausstellungshäuser laden zu später Stunde. mehr