Missbrauch: Strukturen der Landeskirchen behindern Aufarbeitung
Beim 39. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover wurde viel über Missbrauch diskutiert. Doch Betroffene vermissen eine aktive Aufarbeitung auf allen Ebenen. Tut die Kirche genug?
Beim Kirchentag zeigt sich: Man hat inzwischen dazugelernt beim Sprechen über Erfahrungen sexualisierter Gewalt: Eine eigene Hotline gibt es, an die Betroffene sich wenden können, bei Podien zum Thema sind immer auch Seelsorger vor Ort, erkennbar an ihren lila Westen.
Doch längst nicht alles ist gut im Umgang mit Missbrauch. Beim Hauptpodium über sexualisierte Gewalt benennt die Religionswissenschaftlerin Katharina von Kellenbach ein Problem, das Aufarbeitung behindern kann. "Die Rechtfertigungslehre prädestiniert die evangelische Kirche dazu, mit der Versöhnung zu beginnen. Insbesondere manifestiert sich das darin, dass die Betroffenen aufgefordert werden, Feindesliebe zu praktizieren und ihren Tätern zu vergeben und das muss einfach aufhören, das ist einfach theologisch falsch."
Vorwurf der schleppenden Aufarbeitung

Fast eineinhalb Jahre sind seit der Veröffentlichung der großen Missbrauchsstudie vergangen. Die Aufarbeitung verlaufe zu schleppend, so der häufige Vorwurf. Im März hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) eine Anerkennungsrichtlinie beschlossen. Das dickste Brett sei gebohrt, sagt Detlev Zander, der Sprecher von Missbrauchsbetroffenen im kirchlichen Beteiligungsforum, in dem Kirchen- und Diakonievertreter gemeinsam mit Betroffenen über Maßnahmen zur Aufarbeitung entscheiden. Andere Beobachtungen sind weniger positiv. Zander spricht noch immer vom fortwährenden Versagen bei der Aufarbeitung. Das liege unter anderem an der spezifischen Struktur der evangelischen Kirche.
"Es macht keinen Sinn, wenn so eine Richtlinie vom Rat der EKD beschlossen wird und dann aber bei der Umsetzung in den Landeskirchen Widerstand kommt. Es verunsichert die Betroffenen, wenn sie lesen, die Anerkennungsrichtlinie ist beschlossen und dann lesen sie irgendwo anders: Jetzt schauen wir erstmal. Da braucht es eine Klarheit. Und diese Klarheit verlange ich für die Betroffenen von den Bischöfen, von den Landesverbänden, die Verantwortung tragen", so Detlev Zander.
Diejenigen, die sich außerhalb kirchlicher Strukturen für Aufarbeitung einsetzen, sitzen nicht auf einem Hauptpodium des Kirchentags. Sie produzieren dort aber einen Live-Podcast zur Frage "Nach der Forum-Studie - was ist bei Betroffenen angekommen?" mit Jakob Feisthauer und Katharina Kracht von der Betroffeneninitiative "Vertuschung beenden".
Forderung: Kirche muss Deutungshoheit aufgeben
Kirchenkritischen Betroffenen würde nach wie vor nicht genug zugehört, sagt Katharina Kracht: "Zu Beginn des Kirchentages wurde hier von der Pfälzischen Kirchenpräsidentin Frau Wüst gesagt, wir müssen jetzt endlich mal umschalten, wir müssen die Türen für Betroffene öffnen. Da denke ich mir: Das ist gut gemeint, aber wieso die Türen öffnen? Wieso sollen die Betroffenen zu euch kommen, denn das ist euer Territorium. Wenn wir zu euch reinkommen, habt ihr die Deutungshoheit und genau das müsst ihr aufgeben."
Sorge vor Verlust der spirituellen Heimat behindert Aufarbeitung
Nicht nur das Aufgeben von Macht ist eine der Voraussetzungen für ehrliche Aufarbeitung von Missbrauch, so die Analyse des Koordinators der Forum-Missbrauchsstudie, Martin Wazlawik. Auch individuelle Gründe hielten Verantwortungsträger davon ab, mit offenen Augen auf Täter in den eigenen Reihen zu schauen, zum Beispiel die Sorge vor einem Verlust der spirituellen Heimat. Diese Furcht behindere die Aufarbeitung. "Aufarbeitung bedeutet nicht vom einem ins andere Extrem zu schwappen, sondern die Gleichzeitigkeit von positiver Erfahrung und biografischer Beschädigung durch Mitarbeiter in den eigenen Reihen anzuerkennen."
Kulturwandel beginnt bei Ausbildung
Was braucht es für einen Kulturwandel in Sachen Missbrauchsaufarbeitung? Die pfälzische Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst, die im Beteiligungsforum Sprecherin der kirchlichen Beauftragten ist, sieht Handlungsbedarf: "Es muss in alle Ausbildungen, in die Theologie und auch ins Theologiestudium mit rein. Wenn uns das gelingen soll, dass wir im Rahmen von Kirche und Diakonie wirklich einen Kulturwandel haben, dann muss es eben in alle Köpfe rein." Das betreffe das gesamte Spektrum von Aus- und Fortbildung vom Theologiestudium bis hin zur Ausbildung von Gemeindepädagogen und Diakonen.
Nicht nur in diesem Punkt wird das Thema sexualisierte Gewalt die evangelische Kirche also weiter beschäftigen müssen.
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