Eine Alltagsszene auf Kiribati © picture alliance/dpa
Eine Alltagsszene auf Kiribati © picture alliance/dpa
Eine Alltagsszene auf Kiribati © picture alliance/dpa
AUDIO: "Glücklich trotz alledem?" Eine bedrohte Inselwelt im Pazifik (11 Min)

"Glücklich trotz alledem?" - Eine bedrohte Inselwelt im Südpazifik

Stand: 01.07.2023 06:00 Uhr

Auf einer kleinen Insel im Südpazifik bedeutet Glück: Gemeinschaft, nicht geschlagen zu werden, eine Mauer gegen Sturmfluten, eine Toilette, bei seiner Familie zu leben und zu sterben.

von Lena Bodewein

Das Meer rauscht leise. Der Himmel wölbt sich von Horizont zu Horizont, er funkelt aus unzähligen Lichtern. Eine Sternennacht in der Südsee, auf Kiribati.

Kiribati - das ist ein Land, so weit weg wie es nur irgend geht, von Deutschland mehr als 50 Flugstunden, riesig groß von der Ausdehnung her: Die 33 Atolle erstrecken sich über die Südhalbkugel, die Nordhalbkugel und, bevor sie neu zugeschnitten wurde, sogar über die Datumsgrenze. Doch die Landfläche ist winzig klein, gerade mal so groß wie Hamburg.

Die alte westliche Idee von Glück

Es gibt grüne Kokospalmen, weißen Korallensand und türkisblaue Lagunen; die i-kiribati, so heißen die Bewohner, pflegen ihre traditionellen Tänze: Die Frauen mit Muscheln behängt, wenn sie mit der Hüfte wackeln - dann klingt das genauso, wie wenn das Meer in der Brandung die Muscheln und Kiesel wendet. Die Männer tragen Tanzröcke aus speziell geflochtenen Matten und zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Kopf ruhig halten, während der Rest von ihnen in eckigen Bewegungen den Rhythmus der Musik kopiert. Die Gesänge - es ist die Polyphonie der Südsee, die überall erschallt, ob beim Schulabschluss, beim Gottesdienst, im Kindergarten oder auf dem Friedhof.

Es ist also, kurz gesagt, so, wie das Klischee klingt. Unsere alte westliche Idee von Glück, dort muss es sein, das Glück, bei den unbeschwert lebenden Menschen in der Südsee, auf den Inseln der Glückseligkeit. Deswegen kamen Maler und Schriftsteller hierher, die Sonne, die Farben, die Leichtigkeit, all das wollten sie inhalieren, sich inspirieren lassen, Glück finden.

Aber nichts ist, was es scheint. Die Ideen von Glück, sie ruhen auf dünnen, verschwitzten Schaumstoffstücken - dort nämlich ist mein Lager in dieser Sternennacht, die Hitze steht, die Luft klebt schweißig und salzig, es gibt keinen Strom, darum keine Kühlung. Um es den Touristen etwas bequemer zu machen, dürfen sie auf einer Art Schaumstoffmatratze liegen statt auf einer geflochtenen Palmmatte. Aber wenn alle Touristen sich jeweils auf diese Matratze betten dürfen, dann ist wenig Fantasie vonnöten, um sich den Geruch, der von ihr ausgeht, vorzustellen. Der scheinbare Luxus entpuppt sich als trügerisch.

Harmonie in der Gemeinschaftshütte

Weitere Informationen
Ein Obdachloser liegt auf dem Bürgersteig in Istanbul © picture alliance / Pacific Press Foto: Idil Toffolo

Wie Menschen weltweit Krisen meistern - Teil 3: Türkei

Wie erleben unsere ARD-Korrespondent*innen die aktuellen Krisen in anderen Teilen der Welt? Ein Essay von Uwe Lueb. mehr

Doch durch diese Südseenacht ziehen Klänge von Gitarren und Gesang, ich stehe also auf und gehe den Strand an der Lagune entlang, zur Quelle der Musik: der Maneaba, der Gemeinschaftshütte. Dort findet alles statt: Gottesdienste, Dorffeste, Unterricht, man schläft hier, tagsüber, hier bespricht sich der Weise Rat, hier wird getanzt oder Theater gespielt. An diesem Abend schlägt jemand in die Saiten einer betagten Gitarre. Denn nur an diesem einzigen Ort im Dorf gibt es Licht, denn hier rattert ein Generator. Hier haben sich ein paar Männer versammelt, alle singen zur Gitarre, wieder mehrstimmig, natürlich. Die Luft klebt nicht mehr, sie lebt Harmonie. Hier sollte echtes Glück sein - und ein wenig ist es das auch. Denn die Männer trinken Kava, ein friedlich machendes, schlammfarbenes Gebräu aus gemahlener Rauschpfefferwurzel. Und das ist für ihre Frauen das Glück: Sie trinken kein Bier, das würde sie aggressiv und gewalttätig machen. Dass Männer ihre Frauen schlagen, ist hier auf den angeblich glückseligen Inseln leider ein großes Problem. Kava statt Bier - so klein und so groß kann Glück für manche sein.

Kiribati: Stark bedroht von der Klimakrise

Lena Bodewein © Lena Bodewein
Lena Bodewein hat bis Sommer 2022 vom ARD-Studio Singapur aus Südostasien und den Südpazifik erkundet.

Zurück am Strand entschließe ich mich, auf die andere Seite der Insel zu gehen - von der Lagune bis zum offenen Ozean ist die Insel nur wenige hundert Meter breit. Kiribati ist das Land, das am ehesten der Klimakrise zum Opfer fallen könnte. Viele Inselstaaten im Pazifik leiden unter den Auswirkungen, aber Kiribati erhebt sich an seiner höchsten Stelle nur drei Meter über den Meeresspiegel. Die Fluten werden immer höher und stärker, die Wirbelstürme immer häufiger und heftiger - darum sieht echtes Glück für die i-kiribati so aus: sich eine kleine Schutzmauer leisten zu können, damit das Meer nicht ihre Hütte wegspült. Aber das kann kaum jemand. Aus Korallenstücken, aus Sand, der sofort wieder weggeschwemmt wird, und vielleicht mal aus einem Sack Zement versuchen sie, sich eine Mauer zu bauen - aber Zement kann hier kaum jemand bezahlen. Und so frisst das Meer Sturmflut um Sturmflut, Monat um Monat ihr Land weg. Ungeschützt donnern die Wellen dann auf ihre Hütten. Eine Frau hat mir erzählt, dass sie manchmal nachts vom heranjagenden Wasser geweckt werden in ihrer Hütte direkt am Ufer - dann springen sie schnell auf, werfen ihre Habseligkeiten aufs Dach und schnappen ihre Kinder. Warum sie direkt am Wasser wohnen? Weil es keinen Platz gibt. Weil die Inseln klein und schmal sind und ganz fragil.

Der Traum von einem Sanitär-Café

Und natürlich gibt es in der Hütte auch keine Toilette. Glück, das kann auch etwas so Basales wie eine gute sanitäre Versorgung sein. Dafür kämpft die beeindruckendste Frau, die ich auf Kiribati getroffen habe. Claire Anterea arbeitet für das Sanitärprogramm der Regierung. Ihr Traum ist es, dass jede und jeder i-Kiribati ein sauberes Klo hat. Bisher erleichtern sie sich oft in der Lagune, am Strand. Hier, im flachen, türkisfarbenen Wasser des Spülsaums, gibt es viele einladende Stellen. Aber wegen der mangelnden Hygiene sterben jedes Jahr hunderte Kinder an Durchfallerkrankungen. Darum möchte Claire für jeden Sauberkeit und ein schönes Örtchen.

Claire war Diakonisse in Australien, hat danach für die Weltbank gearbeitet und ist im Klimaschutz engagiert. Und immer und überall hat sie dabei auf die sanitären Anlagen geachtet. Als sie einmal im mexikanischen Cancun arbeitete, da gab es eine so schöne Toilette, mit Wänden aus Marmor, die Tür mit Gold verziert und es gab riesige Spiegel und eine Couch. "Und da", so erzählt sie, "da saß ich jeden Morgen und der Raum roch so gut, und die schönen Damen haben sich geschminkt, und alles war so sauber."

Weitere Informationen
Menschen in weißen Anzügen desinfizieren öffentliche Plätze in Shanghai © picture alliance / ASSOCIATED PRESS Foto: Daisuek Kawase

Wie Menschen weltweit Krisen meistern - Teil 2: China

Wie erleben unsere ARD-Korrespondent*innen die aktuellen Krisen in anderen Teilen der Welt? Ein Essay von Eva Lamby-Schmitt. mehr

So etwas möchte sie auch auf Kiribati haben. Claire Anterea träumt von dem romantischsten Klo, das es hier jemals gab. Vielleicht am Ende eines langen Steges, über der Lagune, so wie es ganz früher auch auf Kiribati war, nur modern und mit hygienischer Entsorgung. Es soll einladend sein, man kommt, geht auf Toilette, trinkt danach einen Kaffee, die Frauen plaudern, sitzen im Wind, und das türkisfarbene Wasser plätschert gegen die Stegpfosten. Einen Namen hat sie dafür auch schon: Sanitation Café, Sanitär-Café. Das sind ganz andere Träume von Glück.

Unverbrüchliche Gelassenheit

Gelassenheit - das können wir Westler hier finden. Denn mit unendlicher Gelassenheit versuchen die i-Kiribati ihr Leben zu leben. Nicht einer Idee von Glück hinterherzujagen und sie nie zu erhaschen. Mit unverbrüchlicher Gelassenheit sorgt Claire für ihre Familie. Nimmt, was sie hat, und macht das Beste daraus. Legt rund um ihr kleines Häuschen einen Garten an. Pflanze für Pflanze, Setzling für Setzling. Mit Nutzpflanzen - denn das Essen, das es im Supermarkt gibt, kommt von weither mit dem Frachtschiff und ist sehr teuer. Also versucht sie, wie einige andere Verbündete auch, die eigentlich heimischen Pflanzen und die traditionelle Nahrung mit Brotfrucht, Taroknollen und Zwergbananen wieder zu fördern. Denn unsere westlichen Träume von den glückseligen Inseln mit reichen Tropenfrüchten - auch sie sind verloren: Durch den Klimawandel ist das Süßwasser versalzen, weil das Meer einbricht. Die Kokosnüsse sind leer, die Bananen wachsen kaum, die Taroknollen verdorren. Und die Meere werden leergefischt von schwimmenden Fischfabriken aus China, Japan und Korea, sodass für die i-Kiribati kaum etwas bleibt.

Das Glück auf Kiribati: Familie und Zusammensein

Also bereitet Claire Brotfruchtbrei und teilt die wenigen kleinen Fische, die die Dorfbewohner fangen, mit ihrer Familie. Macht ein Picknick an der Lagune, an einem sauberen Platz. Denn das ist das Glück, von dem die Bewohner der Südseeinseln nicht nur träumen, sondern das sie auch haben können: Familie und Zusammensein. Togetherness people, Zusammensein-Menschen, so bezeichnet Claire sich selbst und ihre Landsleute. Die Idee, wie im Westen Alte und Kranke abzuschieben, erscheint ihr lebensfeindlich. Kinder und Alte, Säuglinge, Kranke, alle gehören zusammen, bis zum Tod. Und der wird hier auch gefeiert: Allerheiligen, auf einem Friedhof in Kiribati. Die Gräber liegen unter Palmen, im sandigen Boden, nahe am heranbrechenden Ozean. Die Grabstellen sind geschmückt mit bunten Tüchern und Luftballons - es soll einladend sein, für die Lebenden und die Toten. Es gibt viele Tote hier, die Lebenserwartung ist nicht hoch auf Kiribati. Das Sterben ist ein natürlicher und viel stärker akzeptierter Teil des Lebens, hier wird nichts verdrängt und von Ideen des Westens überlagert: Wir träumen von einem großen, erfüllenden Lebensglück, und das Ende, ja, das unschöne Ende blenden wir lieber aus. Das scheint hier eine absurde Idee, hier ist das Glück eben: Gemeinschaft. Nicht geschlagen zu werden. Eine Mauer gegen Sturmfluten. Eine Toilette. Bei seiner Familie zu leben und zu sterben.

Zurück auf dem Friedhof: Die Lebenden singen, gemeinsam, die Luft ist gefüllt mit Klängen, Harmonien, Wellenrauschen, es fühlt sich nach einer Verbundenheit in Leid und Glück an.

(Wiederholung der Sendung vom 17. September 2022)

Weitere Informationen
Sonnenuntergang in Kairo © picture alliance / AP Photo Foto: Amr Nabil

Wie Menschen weltweit Krisen meistern - Teil 1: Der Nahe Osten

Wie erleben unsere ARD-Korrespondent*innen die aktuellen Krisen in anderen Teilen der Welt? Ein Essay von Tilo Spanhel. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 01.07.2023 | 13:05 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Die Hamburger Kunsthalle bei Nacht. © Museumsdienst Hamburg, Thorsten Baering

Lange Nacht der Museen: Ein Abend von Ahh! bis Ohh!

Heute Abend findet wieder die Lange Nacht der Museen in Hamburg statt. 53 Ausstellungshäuser laden zu später Stunde. mehr