Sendedatum: 13.05.2020 19:30 Uhr

Verändert Corona unseren Blick aufs Alter?

Man ist so alt, wie man sich fühlt - das ist eigentlich eine Binsenweisheit. Doch tatsächlich sind Senioren heutzutage viel fitter, sportlicher und aktiver als die Generationen davor. "70 ist das neue 60", heißt es gern. Die Rede ist von "Best-Agern" und "Silver-Agern". Doch in der Corona-Krise sind die Alten plötzlich nur noch "Risikogruppe" - und damit die Gruppe, die vielleicht am längsten zu Hause bleiben muss.

VIDEO: Verändert Corona unseren Blick aufs Alter? (16 Min)

Karin Haist, Leiterin der Projekte demografische Zukunftschancen der Hamburger Körber-Stiftung, findet die Vorschläge, nur Risikogruppen zu isolieren - und damit die Alten - empörend: "Das halte ich für eine absolut diskriminierende Maßnahme. Wer würde bestimmen, wann wir alt sind?" Am kalendarischen Alter könne man das nicht festmachen, denn "die Alten" gibt es nicht. "Was uns tatsächlich interessieren muss, ist biologisches Alter, also mein Altersdatum plus mein Lebensstil, meine psychische und physische Verfasstheit." Im After Corona Club spricht Karin Haist mit Anja Reschke über unseren Blick aufs Alter in Zeiten der Corona-Pandemie.

Jeder kann das Coronavirus weitertragen

Es richte sich gegen das Grundgesetz, gegen das Verständnis unserer solidarischen, demokratischen Gesellschaft, zu sagen, die einen müssten "selektiert" werden, damit es den anderen besser gehe, so Haist. "Jeder kann dieses Virus weitertragen. Jeder kann dieses Virus bekommen. Was wir als Schutzmaßnahme einigen angedeihen lassen, nützt allen. Also halte ich das für eine diskriminierende Maßnahme."

Viele Ältere sind aktiv, treiben Sport, haben soziale Kontakte, sind ehrenamtlich aktiv, fühlen sich jung. Deshalb sehen sie sich auch gar nicht als Teil der Risikogruppe. Hilfsangebote von Familienmitgliedern oder freiwilligen Helfern würden zum Teil gar nicht angenommen, solange man sich noch selbst kümmern könne. "Da zeigt sich, dass ganz viele Ältere überhaupt nicht auf die Idee kommen, dass sie unter hilfsbedürftig, unter unterstützenswürdig geführt werden", erklärt Haist. Das betrifft besonders die Nachkriegsgeneration, die sich schwertut, nicht selbstbestimmt zu agieren. "Die waren immer darauf erpicht, selbständig zu bleiben und keine Schwäche zu zeigen."

Social Distancing kann Einsamkeit verstärken

Auf der anderen Seite führt die Corona-Krise aber auch zu Isolation vieler älterer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Eine Studie der Körber-Stiftung mit dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung im vergangenen Jahr habe gezeigt, dass Einsamkeit ab 75 Jahren bei vielen stetig zunehme. Das Abstandhalten verschärft jetzt das Problem. "Das ist eine Erfahrung, die ältere Menschen durch Social Distancing, durch das isolierte Zuhausesein besonders in Heimen, wahrscheinlich häufiger erleben als jüngere."

Das Gespräch als Podcast
Nahaufnahme von Kopfhörern an einem Smartphone © colourbox Foto: Jiri Hera
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Seit der Corona-Krise gelten Ältere plötzlich pauschal als "Risikogruppe". Der Weg zur Diskriminierung sei da nicht weit, befürchtet Karin Haist von der Körber-Stiftung Hamburg. 16 Min

In der Corona-Krise neue Technologien kennenlernen

Die Krise kann aber auch ein Anreiz für ältere Menschen sein, sich mehr mit neuen Technologien auseinanderzusetzen, Video-Anrufe auszuprobieren, Streaming und Mediatheken zu nutzen, Podcasts zu hören. Es gebe viele Initativen, sagt Karin Haist, die dabei helfen könnten. "Auch bei uns im 'Haus im Park' gibt es eine eigene 'Digitale Woche für Ältere'", empfiehlt Haist. "Dagmar Hirche, eine Frau, die 63 ist, ermutigt und befähigt Ältere schon länger, ins Internet zu gehen, ihr Smartphone zu nutzen."

Das sind engagierte gemeinnützige Initiativen, gesamtgesellschaftlich müsse sich aber auch noch einiges tun, glaubt Karin Haist.: "Beispielsweise habe ich auch jetzt erst in der Krise erfahren, dass es überhaupt nicht obligatorisch ist, dass ein Pflegeheim oder ein Altenheim mit WLAN ausgestattet sein muss. Natürlich sind solche Dinge im Großen zu ändern - und flächendeckend."

Den Älteren empfiehlt Karin Haist in der Krise, Begegnungen zu suchen, auch auf digitalem Weg, auf Ernährung und Fitness zu achten und sich bewusst zu machen, dass jeder im richtigen Alter sei: "Nicht alt zu werden, ist kein Privileg, ganz im Gegenteil."

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | After Corona Club | 13.05.2020 | 19:30 Uhr

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