Psychotherapeut über Pandemie: "Angststörungen häufen sich"
Depressionen, Einsamkeit, Angststörungen: Der Präsident der Psychotherapeutenkammer Schleswig-Holstein, Dr. Clemens Veltrup, spricht im Interview darüber, was so viele Menschen in der Corona-Pandemie belastet.

Nach fast zwei Jahren Corona-Krise leiden offenbar immer mehr Menschen in Schleswig-Holstein unter psychischen Erkrankungen. Die Pandemie-Situation sei für alle Menschen eine Stresssituation, heißt es von der Psychotherapeutenkammer. Deshalb sei die eh schon große Nachfrage nach Therapieangeboten nochmals gestiegen. Dr. Clemens Veltrup ist psychologischer Psychotherapeut an der Fachklinik Freudenholm in Schellhorn (Kreis Plön) und Präsident der Psychotherapeutenkammer Schleswig-Holstein. Im Interview erklärt er, warum die Pandemie so viele Menschen belastet - und was man tun kann.
Herr Dr. Veltrup, wie stark wirken sich die Folgen der Corona-Pandemie auf die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen in Schleswig-Holstein aus?
Dr. Clemens Veltrup: Also ganz allgemein feststellbar ist, dass die Leute sehr unter Stress leiden. Stress heißt nichts anderes als: Es gibt Anforderungen, denen wir nicht genügen können. Und davon sind natürlich ganz viele Menschen betroffen. Davon sind die Eltern betroffen, die plötzlich nicht wissen, wie sie ihre Kinder betreuen sollen, weil die Kita schließt, weil die Kinder isoliert werden müssen, weil der Schulbesuch nicht gesichert ist. Stress gibt es auch für ganz bestimmte Berufsgruppen: für Pflegekräfte, an die jetzt seit knapp zwei Jahren besondere Herausforderungen gestellt werden, die sie kaum noch erfüllen können. Und Ärzte, die bis an die Grenze des Möglichen arbeiten. Und viel Stress führt immer zu erheblichen psychischen Belastungen und mangelnder Work-Life Balance - also die Unmöglichkeit, Ausgleich zur Arbeit zu finden. Auch das fördert und begünstigt psychische Beeinträchtigungen.
Sie sagen "auch" - was kommt noch hinzu?
Veltrup: Hinzu kommt soziale Vereinsamung. Alles, was einem Spaß macht, ist in den letzten Monaten, im letzten Jahr quasi mehr oder weniger verboten gewesen, sodass die Leute aus ihrem ganz natürlichen Leben rausgerissen worden sind, erhebliche Belastungen erleben und keinen Ausgleich haben. Und das ist natürlich ein totaler Risikofaktor - auch für die Entwicklung von psychischen Störungen, besonders bei Menschen, die schon vulnerabel, also besonders empfänglich sind für solche Belastungen. Sie können den Stress nicht richtig regulieren und entwickeln dann behandlungsbedürftige psychische Störungen.
Wer kann Hilfe leisten?
Veltrup: Die niedergelassenen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten beschreiben, dass sie sehr nachgefragt werden. Die sind immer schon ausgelastet gewesen und jetzt haben sie Nachfragen, die sie natürlich auch nicht bedienen können. Also es gibt ganz viele Nachfragen und Leute, die psychotherapeutische Hilfe wollen. Das Problem: Unser Versorgungssystem ist auf diese besondere Notfallsituation einfach nicht eingestellt. Hinzu kommt: Nicht nur neue Leute laufen Gefahr, psychische Störungen zu entwickeln, sondern auch die aktuell psychisch Kranken haben natürlich unter erheblichen Beeinträchtigungen zu leiden.
Inwiefern?
Veltrup: Auch deren Therapie kann ja im Moment nicht richtig stattfinden. Glücklicherweise können wir auch Video-Therapie anbieten. Aber die persönliche Begegnung kann das nicht ersetzen. Und ganz bestimmte Behandlungsformen gehen überhaupt nicht mehr - beispielsweise wenn Menschen wegen einer Angst vor Menschenmengen behandelt werden müssen. Dann macht man das im Rahmen einer sogenannten Expositionstherapie: Patient und Therapeut gehen also gemeinsam vor die Haustür. Und das geht nun auch nicht mehr.
Wie viele Menschen genau von psychischen Erkrankungen betroffen sind, ist nicht bekannt. Es gibt eine hohe Dunkelziffer, weil viele Betroffene nicht zum Arzt gehen, richtig?
Veltrup: Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Die Menschen, die jetzt noch in der Lage sind, nach ärztlicher Unterstützung zu fragen, sind ja noch ausreichend stabil. Wir nennen das aktive Inanspruchnahme. Aber die Leute, die so schwer beeinträchtigt sind, dass sie in ihren Wohnungen vereinsamen, dass sie antriebslos sind, dass sie gar nicht mehr in der Lage sind, solch aktives Hilfesuchverhalten zu zeigen, denen geht es natürlich besonders schlimm. Und ich denke auch, dass es nach dem Ende der Pandemie noch lange Zeit dauern wird, bis alle psychischen Probleme behandelt wurden.
Welche psychischen Erkrankungen sind denn besonders häufig?
Veltrup: Das sind vor allem Angststörungen. Und das kann man sich auch gut vorstellen: Die Betroffenen haben zum Beispiel Angst, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Das macht ängstliche Menschen noch ängstlicher. Und dann sind da die Depressionen, die gerade zunehmen und in Zukunft auch weiter zunehmen werden. Die wiederum können dann außerdem dazu führen, dass Betroffene plötzlich mehr trinken oder damit beginnen. In Anlehnung an Wilhelm Busch und die "Fromme Helene": "Wer Sorgen hat, hat auch Likör". Viele Betroffene versuchen den Stress, die Einsamkeit und die Unmöglichkeit, Kontakte aufzunehmen, mit Alkohol erträglicher zu machen.
Was können Betroffene tun, damit es gar nicht erst zu einer ernsthaften psychischen Erkrankung kommt?
Veltrup: Jeder sollte möglichst früh überprüfen, ob und was sich möglicherweise verändert. Dann kann man schauen, was man dagegen tun kann. Es geht um Selbstfürsorge, positive Gedanken. Alles das, was man im Rahmen einer Psychotherapie lernt, ist prinzipiell auch alleine möglich. Also Techniken anwenden, die zu einer Verbesserung der Befindlichkeit führen. Bei Depressionen sind das vor allem Aktivitäten. Und das müssen nicht unbedingt sportliche Aktivitäten sein.
Es gilt die Faustregel: 10.000 Schritte am Tag. Das fördert nicht nur die körperliche Fitness, sondern stabilisiert auch die psychische Gesundheit. Menschen, die eine Angststörung an sich bemerken, könnten sich beispielsweise im Internet Selbsthilfegruppen suchen, die sich dort längst gebildet haben. Das wäre ein erster Ansatz zu einer eigentlich notwendigen psychotherapeutischen Behandlung.
Das Interview führte Christian Nagel, NDR Schleswig-Holstein.
