Nele und Julia halten ihre Smartphones in der Hand mit geöffneter App © NDR Foto: Katharina van der Beek

Mit einer App über jüdisches Leben in Schleswig-Holstein lernen

Stand: 28.08.2022 06:00 Uhr

Durch Quizfragen, Videos und eine interaktive Rallye soll jüdische Geschichte erlebbar werden. Der Historiker Helge-Fabien Hertz hat dazu mit Studierenden der Uni Kiel einen "Actionbound" entworfen.

von Katharina van der Beek

Julia Manicke, Neele Hemmerling, Malte Reese und Johannes Meyer sitzen gemeinsam an einem Tisch. Alle haben sie ihr Smartphone in der Hand. Konzentriert schauen sie darauf und überlegen. "Ich tendiere eher zu 1525 oder 1848", sagt Neele. "Ich würde eher 1525 sagen", meint Malte. Die Frage im Quiz: Wie lange schon gibt es jüdisches Leben in Schleswig-Holstein? Johannes wählt schließlich eine weitere mögliche Jahreszahl: 1424. Es ertönt ein lautes "Pling". Die Antwort ist richtig und 200 Punkte landen mit einem Klirren im virtuellen Sparschwein der App "Actionbound". Die vier Jugendlichen gehen in ein zwölfte Klasse des Regionales Berufsbildungszentrum in Kiel. Gemeinsam mit ihren Mitschülern testen sie das virtuelle Lerntool. Alle vier haben in der Schule schon oft über das Judentum gesprochen. Von der App erwarten sie sich nun vor allem, mehr über das heutige Leben von Jüdinnen und Juden zu erfahren und, "dass man mehr Bezüge zu Kiel bekommt", fügt Neele hinzu.

Geschichtliches Wissen mit Menschen und Orten verknüpfen

Um die ersten Fragen zu beantworten müssten die Spielenden nicht in Kiel sein. Der "Actionbound" funktioniert auch ohne Stadtrallye. Die Studentin Elisabeth Teichmann, findet aber, "dass Dinge immer am meisten in Erinnerung bleiben, wenn man nicht nur das Wissen hat, sondern das Wissen auch mit Orten und mit Menschen verknüpfen kann." Und so heißt es: Los geht’s! Die vier machen sich auf zum Startpunkt der Rallye. Über GPS-Verbindung zeigt ein Pfeil in der App den Weg. Johannes navigiert: "Noch 74 Meter, dann sind wir da." "Dann können wir schon auf den Boden schauen", sagt Malte und sucht den Bürgersteig ab. Denn: Die vier suchen nach zwei Stolpersteinen. "Hier wohnten Siegfried David und Clara Heller", liest Malte vor. "Beide deportiert 1941." Hier lernen die Jugendliche etwas über die Erinnerungskultur.

Es geht aber auch um den Neuanfang in Schleswig-Holstein. Nach 1968 gab es rund 20 Jahre lang praktisch kein aktives jüdisches Leben mehr. Das änderte sich erst zur Zuwanderung Anfang der 90er Jahre. "Heutzutage stammen 90 Prozent der Juden in Deutschland aus der ehemaligen Sowjetunion", liest Malte in der App und fügt erstaunt hinzu: "Das wusste ich nicht!" Auch die heutige Leiterin der Gemeinde in Kiel, Victoria Ladyshenski, ist 1992 nach Deutschland gekommen und hat die heutige Gemeinde mit aufgebaut.

Wie neues jüdisches Leben in Schleswig-Holstein entsteht

Ein wichtiger Ort befand sich damals in der Fockstraße. Das ist auch die erste Station der Rallye. Zunächst etwas ratlos stehen die vier vor einem Bürgertreff der Arbeiterwohlfahrt. Die App verrät: Hier fanden Anfang der 90er Jahre die ersten Treffen mit einem jüdischen Rabbiner statt. Dann geht es weiter zum alten jüdischen Friedhof. Hier erfahren die Schülerinnen und Schüler mehr zum Thema Antisemitismus. Johannes fällt beim Blick auf die Mauer direkt auf: "Im Gegensatz zu den anderen Häusern ist das hier schon extrem beschmiert. Das ist echt traurig zu sehen", meint er mit Blick auf die vielen Graffiti."„Auf anderen Friedhöfen habe ich das noch nie in solchem Ausmaß gesehen.", fügt Julia betroffen hinzu.

Die dritte Station ist der Kieler Hauptbahnhof. Auch hier rätseln die Jugendlichen erst mal, warum die App sie an diesen Ort führt. Julia schaut sich dazu ein Video von Victoria Ladyshenski an. Dann ruft sie erstaunt: "Hier war ihr erstes Büro" und Neele ergänzt: "Weil ja viele Juden, die dann erstmals hier her kamen aus der Sowjetunion natürlich hier am Hauptbahnhof ankamen." Doch Büroräume sucht man hier vergebens. Auf einer Bank hat Ladyshenski damals mit den Ankommenden wichtige Formulare ausgefüllt. "Vielleicht eine von den Kreisrunden?" überlegt Neele und lässt den Blick über die Bänke am Bahnhofsvorplatz schweifen.

Die Vielfalt jüdischen Lebens erfahren

Historiker Helge-Fabien Hertz hat zusammen mit Studierenden der Universität Kiel diesen "Actionbound" entworfen. Ihm geht es vor allem darum, dass die Schüler die Stadt nach der Rallye mit etwas anderen Augen sehen. "Wir haben den Actionbound entwickelt zum einen, weil wir eben diesen Migrationshintergrund des heutigen Judentums in Deutschland sichtbar machen und zum anderen auch auf die Vielfalt jüdischen Lebens heute hinweisen wollten." Mehrere Monate haben die Studierenden an dem Quiz gearbeitet, um einen spielerischen, aber dennoch dem Thema angemessenen Zugang zu finden. Besonders Schulklassen soll der "Actionbound" das jüdische Leben näherbringen und auch zu Begegnungen anregen.

Gemeinsam lernen und einander begegnen

So befindet sich die letzte Station im Gemeindezentrum in der Wikingerstraße. Victoria Ladyshenski wartet schon: "Herzlich Willkommen in der jüdischen Gemeinde! Wie war es?" "Sehr gut!", so die einstimmige Meinung. Was Julia, Neele, Malte und Johannes gefallen hat: wie vielseitig das jüdische Leben in Schleswig-Holstein beleuchtet wurde. Und, dass man sich bewegen und auch zwischen den Stationen weiter unterhalten kann, meint Julia: "Da kann man ganz anders nochmal drüber nachdenken."

Das Quiz ist in der App "Actionbound" (Verfügbar für Android und iOs) unter dem Namen "SHalom und Moin! Auf den Spuren jüdischen Lebens in Schleswig-Holstein" zu finden.

Weitere Informationen
Peter Harry Carstensen lächelt in die Kamera. © dpa-Bildfunk Foto: Carsten Rehder

Antisemitismus-Beauftragter: Carstensen nicht mehr im Amt

Der Ex-Ministerpräsident ist nicht mehr Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus. Wer ihm folgt, ist bisher offen. mehr

Der Landesbeauftragte gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens in Niedersachsen, Franz Rainer Enste, gestikuliert während eines Gesprächs. © picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte Foto: Julian Stratenschulte

Antisemitismus: "Betroffenheitsrituale reichen nicht"

Niedersachsens Landesbeauftragter gegen Antisemitismus, Enste, fordert mehr Prävention. Dauerhafter Einsatz sei nötig. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Moin! Schleswig-Holstein – Von Binnenland und Waterkant | 28.08.2022 | 19:30 Uhr

Nachrichten aus Schleswig-Holstein

Das Holstein Stadion in Kiel aus der Luft. © ARD

Traum vom Aufstieg: Was im Holstein-Stadion noch zu tun ist

Holstein Kiel hat die Lizenz für die Teilnahme am Spielbetrieb der ersten und zweiten Fußball-Bundesliga erhalten, allerdings unter Auflagen. mehr

Videos