Wohnen im Hagenweg 20: Zwischen Alltag und Vorurteilen
Der Göttinger Wohnblock gilt seit Langem als "Problemimmobilie". Wer dort lebt, hat oft mit Vorurteilen zu kämpfen. Eine NDR Dokumentation zeigt den Alltag der Menschen und blickt hinter die Klischees.
Drei Betonblöcke, nicht weit von der Göttinger Innenstadt entfernt: 164 Wohnungen gibt es im Hagenweg 20. Momentan sind dort mehr als 170 Menschen gemeldet. Eine von ihnen ist Carmen Winterstein. Sie lebt seit Jahrzehnten hier. Mit dem Verfall des Hauses kamen auch die Vorurteile, sagt sie: "Wir sind alle nur Dreck. Wir sind die Letzten vom Letzten und das finde ich nicht gut, weil wir doch alle Menschen sind". Das Haus werde immer wieder mit Drogen, Prostitution, Alkoholismus, Kriminalität und Verwahrlosung gleichgestellt. Arbeitslos, asozial, abgehängt - so sehe man die Menschen von außen, ohne sie zu kennen, sagt die Bewohnerin. Das Haus ist immer wieder in den Medien, vor allem wegen des desolaten Zustands. Die NDR Dokumentation "Wer sind die Abgehängten?" blickt hinter die Fassade des Wohnblocks. Ein Reporterteam trifft Bewohnerinnen und Bewohner, spricht mit ihnen über Alltag und Vorurteile.
Von der guten Adresse zur "Problemimmobilie"
Gebaut 1976 gilt der Hagenweg 20 lange als gute Adresse in Göttingen. Carmen Winterstein zieht bereits kurz nach Fertigstellung ein, erinnert sich an Studierende und Ärzte als Nachbarn. Inzwischen sind zahlreiche Baumängel offen zu sehen: kaputte Eingangstür, defekter Aufzug, zerstörte Briefkästen, Löcher in Decken und Wänden, Feuchtigkeit in der Außenfassade. In einem Strategiepapier der Stadt Göttingen aus dem Jahr 2021 zum Umgang mit prekären Wohnimmobilien steht: "Nach aktueller Einschätzung der Verwaltung ist zum Beispiel die Wohnimmobilie Hagenweg 20 als die defizitärste Immobilie unter den prekären Wohnimmobilien einzustufen." Das Haus gehört 21 Eigentümerinnen und Eigentümern. Von einer großen Aktiengesellschaft, der Coreo AG mit Sitz in Frankfurt, bis hin zu Einzelpersonen.
Der NDR hier im Gespräch mit dem Sozialarbeiter vom Haus der Hoffnung e.V., Martin Dieckmann, und mit Michael Mießner, Juniorprofessor für Wirtschaftsgeografie.
Bewohnerin: "Verurteilen Sie mich nicht!"
Die äußere Fassade verstärke die Vorurteile gegenüber den Bewohnerinnen und Bewohnern, sagt Carmen Winterstein. Sie erzählt, inzwischen sei der Ruf des Hauses so schlecht, dass sie sogar auf der Straße von Fremden darauf angesprochen werde. "Kein Wunder, dass Sie Asis sind", bekomme sie immer wieder zu hören. Ihre Reaktion sei immer gleich, sagt die Bewohnerin: "Verurteilen Sie mich nicht, wenn Sie noch nicht mal wissen, wie und warum der Mensch dort wohnt! Ihr gebt uns ja keine Chance." Mit Vorurteilen behaftet sind auch andere Wohnblöcke in sozialen Brennpunkten in Niedersachsen, wie der Wollepark in Delmenhorst oder die Häuser im Canarisweg im hannoverschen Stadtteil Mühlenberg. Die Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte in Niedersachsen (LAG) zählt in ihrer Bestandsaufnahme landesweit mehr als 300 sogenannte Wohngebiete mit besonderen Herausforderungen". Diese befinden sich längst nicht mehr nur in Großstädten: "Der Anteil der Gebiete im ländlichen Raum ist kontinuierlich gestiegen und macht derzeit ein Drittel der Wohngebiete mit besonderen Herausforderungen in Niedersachsen aus", schreibt die LAG.
Studie zeigt: Vorurteile können krank machen
Dass Vorurteile Menschen in ihrem Leben beeinflussen und sogar krank machen können, zeigen Studien wie jüngst die der Krankenkasse IKK classic. Mehr als 1.500 Menschen wurden dafür befragt, 38 Prozent der Teilnehmenden geben an, sich selbst schon einmal bei Vorurteilen ertappt zu haben. Gleichzeitig sagen 70 Prozent der Befragten, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung Vorurteile habe. Die Studie zeigt auch einen Zusammenhang zwischen Vorurteilen und Diskriminierung sowie zu Krankheiten, die Betroffene ereilen können. Menschen, die sich stark diskriminiert fühlen, leiden etwa an Schlafstörungen, Depressionen, Magen-Darm-Erkrankungen, Zusammenbrüchen, Migräne oder Essstörungen.
Stadt Göttingen: "Eigentum verpflichtet"
Seit Jahrzehnten werden in der Stadt Göttingen politische Debatten geführt, wie man mit dem Hagenweg 20 umgehen soll. Die Stadt schreibt, dass es im Laufe der Jahre zu einer Vielzahl an Eigentümerwechseln gekommen sei. Inzwischen habe sich eine "komplexe und herausfordernde Eigentümerstruktur" herausgebildet. Investorinnen und Investoren kauften Anteile der unsanierten Immobilie und verfolgten aus Sicht der Stadt hauptsächlich Renditestrategien. Erforderliche Instandhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen seien über Jahre nicht vorgenommen worden. Die Qualität der Wohnverhältnisse schien die meisten Eigentümerinnen bislang nicht zu interessieren, heißt es weiter aus der Pressestelle. Inzwischen sei ein erheblicher Sanierungsstau entstanden. Die Verantwortung für den Zustand der Wohngebäude liege allein bei den Eigentümern und Eigentümerinnen.
Keine Antworten von den Eigentümern
Anfragen des NDR an die Vertretung der Eigentümergemeinschaft zum Zustand, zu Sanierungsmaßnahmen und zur Wohnsituation der Menschen vor Ort bleiben unbeantwortet. Die Stadt Göttingen gibt noch an: Konkret eingreifen könne sie nur bei Überbelegung, Schädlingsbefall oder wenn der Brandschutz nicht mehr gegeben sei. Regelmäßige Begehungen fänden statt. Seit drei Monaten hat der karitative Verein Haus der Hoffnung im Hagenweg 20 ein Büro eingerichtet. "Wir verstehen uns in erster Linie als Brücke und Lotsen, die die Beratungsangebote dorthin transportieren, wo sie gebraucht werden", sagt Martin Dieckmann, Sozialarbeiter des Vereins. Haupt- und Ehrenamtliche besuchten die Menschen in ihren Wohnungen, seien ansprechbar. Direkte Angebote vor Ort seinen äußerst wichtig, das baue Hemmschwellen ab, Hilfe anzunehmen, so Dieckmann. "Es ist wichtig, dass es eine aufsuchende Sozialarbeit gibt". Viele Bewohnerinnen und Bewohner sagen dem NDR: Sie wünschten sich, dass andere Menschen ihnen normal begegneten, sie ernst nehmen und unterstützen. Sie wollen als Teil der Gesellschaft gesehen werden - der sie auch sind.
Die NDR Dokumentation "Wer sind die Abgehängten?" ist in der ARD Mediathek zu sehen, im NDR Doku-Kanal bei Youtube und am 31. Mai 2022 um 0.45 Uhr im NDR Fernsehen. Außerdem wird sie auf dem Instagram-Kanal des NDR Niedersachsen begleitet.
