Die EU-Gesundheitsbehörde ECDC warnt davor, dass die zuerst in Südafrika festgestellten Omikron-Untervarianten BA.4 und BA.5 zu einem Wiederanstieg der Fallzahlen führen könnten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt nach wie vor Delta und Omikron als "besorgniserregende Varianten". Bei Omikron schließt dies mehrere Linien ein, darunter BA.4 und BA.5. Beide wiesen teils andere Charakteristika auf als andere Omikron-Varianten.
Mit BA.4 und BA.5 sorgen zwei neue Omikron-Untervarianten für eine steigende Zahl an Infektionen in Ländern wie Südafrika und Portugal. Die bisherigen Analysen der vorliegenden Daten wiesen auf einen Wachstumsvorteil gegenüber der noch vorherrschenden Omikron-Untervariante BA.2 hin, so die britische Gesundheitsbehörde. Deutsche Experten betrachten BA.4 und BA.5 bisher eher gelassen. Die Varianten überträfen sich zwar gegenseitig in ihrer Fähigkeit, die Immunantwort zu umgehen, sie sind aber wohl nicht gefährlicher als die hierzulande vorherrschende Omikron-Variante BA.2. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach warnte: "Die besonders ansteckende Variante BA.4/BA.5 ist auch bei uns auf dem Vormarsch. Dies könnte im Herbst die nächste Welle werden." Das RKI hatte seine Risikobewertung der aktuellen Corona-Lage in Deutschland Anfang Mai um eine Stufe gesenkt. Die derzeitige Gefährdung durch Covid-19 für die Gesundheit der Bevölkerung schätzt die Behörde nun insgesamt als "hoch" ein.
Laut EU-Gesundheitsbehörde ECDC ist Omikron bereits seit Mitte Januar 2022 die dominierende Variante in der Europäischen Union und dem europäischen Wirtschaftsraum. Die bislang ältesten bekannten Nachweise der Variante stammen aus der ersten November-Hälfte. Wissenschaftler hatten sie zunächst im Süden Afrikas entdeckt. Nach Angaben der WHO macht die Omikron-Variante BA.2 derzeit den Großteil aller analysierten Fälle weltweit aus.
In Deutschland wurde die Virusvariante Omikron Ende November 2021 bei mehreren Reise-Rückkehrern aus Südafrika nachgewiesen. Im Norden meldete Niedersachsen am 3. Dezember 2021 den ersten Omikron-Nachweis. Seit der zweiten Kalenderwoche 2022 ist sie die vorherrschende Variante in Deutschland. Unter den Sars-CoV-2-Varianten dominiert laut Robert Koch-Institut (RKI) derzeit weiter Omikron mit 99 Prozent, allein auf die Untervariante BA.2 entfielen in der 22. Kalenderwoche (30. Mai bis 6. Juni 2022) 71,7 Prozent. Erneut verdoppelt im Vergleich zur Vorwoche hatte sich der Anteil von BA.5, und zwar von 11,5 auf 23,7 Prozent. Laut RKI-Zahlen lag der Anteil von BA.4 bei 4,2 Prozent (KW 21: 2,2). Anhand der Verdopplungszahlen von Meldewoche zu Meldewoche ist davon auszugehen, dass die Omikron-Sublinie BA.5 in Deutschland seit etwa Mitte Juni vorherrschend ist.
Die Omikron-Variante weist mehr als 50 Erbgutveränderungen auf, die meisten davon am Spike-Protein, mit dem das Virus an der menschlichen Zelle andockt und auf das auch die Impfstoffe der ersten Generation abzielen. Verändert sich ein Virus so, dass Antikörper von Genesenen und Geimpften weniger gut ansprechen, nennen Fachleute dies Immunflucht (Immunescape). Laut dem Virologen Christian Drosten stammen BA.4 und BA.5 nicht von BA.1 bis BA.3 ab, sondern sind Varianten des gemeinsamen Omikron-Vorläufers. Immunflucht sei wahrscheinlich, das könnte Reinfektionen begünstigen.
Omikron zeichnet sich durch eine stark gesteigerte Übertragbarkeit im Vergleich zur Delta-Variante aus. Zur schnelleren Ausbreitung des Virus trägt bei, dass sich Omikron nach einigen Studien vermutlich vor allem in den oberen Atemwegen vermehrt statt in der tiefen Lunge. Das kann zu einer schnelleren Übertragung führen. Die Virusvariante ist in der Lage, dem Impfschutz auszuweichen, also auch Geimpfte und Genesene anzustecken. Die Varianten BA.4 und BA.5 sind laut Analysen der vorliegenden Daten sogar noch etwas ansteckender. Saisonale Effekte könnten die Verbreitung der neuen Omikron-Sublinien BA.4 und BA..5 nicht kompensieren, wenn Verhaltensregeln nicht mehr beachtet werden, merkt das RKI an.
Nach allen bislang vorliegenden Daten verläuft eine Omikron-Infektion zumeist relativ mild, es müssen nicht mehr so viele Patienten auf Intensivstationen behandelt werden. Für Ungeimpfte sei die Omikron-Variante aber nicht harmlos, warnt der Virologe Drosten. Trotz der hohen Impfquote in Portugal stieg dort zuletzt die Zahl der Krankenhauspatienten und die Sterblichkeit im Zusammenhang mit Covid-19. Die EU-Gesundheitsbehörde ECDC sieht derzeit jedoch noch keine Anzeichen dafür, dass BA.4 und BA.5 zu einem schwereren Krankheitsverlauf im Vergleich zu bisherigen Omikron-Linien führt. Die Infektionen durch BA.5 spielten sich offenbar wieder tiefer in den Bronchien ab, nicht mehr nur im Nasen- und Rachenbereich. Das sei heikler und müsse beobachtet werden, sagt der Immunologe Reinhold Förster von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).
Daten der britischen Gesundheitsbehörde zeigen, dass Impfungen bei BA.2 ebenso wie bei BA.1 zwar nicht zwingend vor Ansteckungen schützen, aber vor schweren Verläufen. Für Geimpfte mit Auffrischimpfung schätzt das RKI die Gefährdung als "moderat" ein. Report 50 vom Imperial College London stützt diese Annahme. Bei Menschen mit Booster-Impfung reduziert sich danach die Wahrscheinlichkeit einer Hospitalisierung um 63 Prozent. Omikron überwindet offenbar die erste Abwehrlinie des Immunsystems, die Antikörper. Das Immunsystem Geimpfter hat aber noch weitere Mittel, sich zur Wehr zu setzen wie zum Beispiel die T-Zell-Antwort. "Wir warten noch auf Daten der Hersteller, wie gut bestimmte Impfstoff-Kombinationen gegen BA.4 wirken", sagte Immunologe Carsten Watzl dem ZDF. Zwar arbeiteten die Hersteller an angepassten Omikron-Impfstoffen, die seien aber auf BA.1 abgestimmt. "Die Entwicklung ist da immer etwas hinterher. Schwere Erkrankungen sollten aber dennoch auch bei BA.4 verhindert werden."
Biontech/Pfizer wertet zwei Impfstoff-Dosen als nicht ausreichenden Schutz vor einer Infektion. Eine Studie aus Großbritannien ergab, dass die Wirksamkeit gegen eine symptomatische Infektion mit Omikron 15 Wochen nach der zweiten Dosis Biontech auf 34 Prozent sinkt. Menschen, die mit zwei Dosen des AstraZeneca-Präparats geimpft worden waren, hatten keinen Schutz mehr vor symptomatischer Infektion. Zwei Wochen nach einer Booster-Impfung stieg die Effektivität bei beiden Präparaten auf über 70 Prozent.
Auch eine Auffrischdosis mit Moderna erhöht die Immunabwehr des Körpers deutlich. Im Vergleich zu einer Zweifach-Impfung sei der neutralisierende Antikörperspiegel nach einem Booster um das rund 37-fache gestiegen, so das Unternehmen. Laut WHO-Europadirektor Hans Kluge bieten zugelassene Impfstoffe weiter guten Schutz vor ernsthaften Erkrankungen und Tod.
Biontech-Chef Ugur Sahin rechnet mit der Zulassung eines angepassten Covid-19-Impfstoffs bis zum Herbst. "Je nach Entscheidung der Behörden könnte ein angepasster Impfstoff im August, September oder Herbst genehmigt werden", sagte Sahin am 1. Juni auf der Hauptversammlung des Mainzer Biotech-Unternehmens. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat Sahin zufolge Ende Juni ein Treffen geplant, bei dem Vorgaben gemacht werden sollen, was die Behörde von den an die Omikron-Variante angepassten Vakzinen erwartet. Sahin rechnet mit einem solchen Schritt auch bei der europäischen Arzneimittelbehörde EMA.
Mit der Booster-Impfung können Antikörperspiegel zwar wieder angehoben werden, trotzdem gibt es auch zahlreiche Omikron-Fälle bei dreifach Geimpften. Die Virologin Sandra Ciesek warnt daher, dass eine Konzentration auf die Booster-Kampagne nicht reichen werde, auch weil der Schutz wieder nachlasse. Dennoch sei der Wert der Booster-Impfung hoch, sagt der Virologe Christian Drosten im NDR Corona-Podcast. "Die doppelte Impfung wird für die Verbreitungskontrolle wahrscheinlich weniger beitragen bei Omikron. Da sind wir ziemlich ungeschützt", sagt Drosten. "Aber die Dreifach-Impfung macht den Unterschied." Als ideale und nachhaltige Immunisierung gegen das Coronavirus sieht Drosten drei Impfdosen plus eine oder mehrfach durchgemachte Infektionen an.
Die Symptome nach einer Omikron-Infektion unterscheiden sich zum Teil von anderen Coronavirus-Varianten. Omikron scheint sich den bisherigen Erkenntnissen zufolge weniger in der Lunge als in Nase und Rachen auszubreiten. Laut RKI wurden von Omikron-Infizierten als Symptome vor allem Schnupfen, Husten und Halsschmerzen genannt. Außerdem berichteten Infizierte von nächtlichen Schweißausbrüchen, Appetitlosigkeit, Fieber, extremer Müdigkeit sowie Kopf- und Gliederschmerzen. Seltener als bei anderen Varianten ist offenbar der Verlust des Geruchs- oder Geschmackssinns.
Laut WHO kommt es auf die Kombination von Maßnahmen an: zusätzlich zum Impfen etwa Masken, Abstand, Lüften, Handhygiene. Forschende des Max-Planck-Instituts gehen davon aus, dass FFP2-Masken Omikron vielleicht sogar besser zurückhalten als Delta. Analyseergebnisse deuten demnach darauf hin, dass bei der Omikron-Variante die meiste Viruslast in den größeren Partikeln steckt. Diese würden von den Masken sehr effizient zurückgehalten, so der Forschungsleiter.
Forscher aus den USA haben medizinische Daten von mehr als 650.000 kleinen Kindern ausgewertet, die zwischen Anfang September 2021 und Ende Januar 2022 an Covid-19 erkrankten. Sie verglichen die Krankheitsverläufe bei Delta (September bis November) und Omikron (Ende Dezember bis Ende Januar). Ergebnis: Omikron verlief zwar milder, infizierte aber deutlich mehr Kinder.
Auch Kinder und Jugendliche werden durch Impfungen vor schweren Verläufen geschützt. "Deswegen sollten alle Kinder geimpft werden, vordringlich natürlich diejenigen mit Risikofaktoren", sagte Tobias Tenenbaum, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (NOZ). Laut internationaler Studien sowie eigenen Beobachtungen sei die Omikron-Mutante für Kinder in der Regel nicht gefährlich. Bei schweren Verläufen handele es sich um Einzelfälle und "immer mit besonderen Risikofaktoren wie starkem Übergewicht", erläuterte der Arzt.
Rekombinanten sind Viren, deren Erbmaterial sich aus der Genominformation verschiedener Varianten zusammensetzt. Ein solcher "Kopierfehler" kann passieren, wenn verschiedene Varianten gleichzeitig eine Wirtszelle infiziert haben. Rekombinanten wie XM, XW oder XE treten laut RKI in Deutschland bislang nur sporadisch auf. Es liegen demnach keine epidemiologischen Hinweise auf eine Veränderung der Übertragbarkeit, Virulenz und/oder veränderter Immunantwort gegenüber den Ausgangsvarianten vor.
Bei monoklonalen Antikörpern, die als frühe Therapie bei einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf eingesetzt werden, könnte das der Fall sein. Die künstlich hergestellten Eiweiße sollen Coronaviren am Eintritt in die menschliche Zelle hindern. Doch genau diesen Antikörpern kann Omikron offenbar ausweichen. Die gute Nachricht: An den Angriffspunkten der kürzlich entwickelten antiviralen Medikamente Molnupiravir und Paxlovid wurde bislang nur eine Mutation identifiziert; sie würden wohl weiter wirken.
Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) verweist darauf, dass Antigentests nicht zur sicheren Diagnose einer Corona-Infektion entwickelt worden seien, sondern um Menschen mit einer sehr hohen Viruslast schnell und einfach zu identifizieren. Eine Infektion, auch mit der Omikron-Variante, könnten die Tests nur entdecken, wenn zum Testzeitpunkt eine hohe Viruslast bestehe. Aber: Grundsätzlich kann der Großteil der in Deutschland angebotenen Corona-Schnelltests laut PEI die Omikron-Variante erkennen.