VIDEO: Arbeit unter Talibanherrschaft: Die Arbeit des Afghanischen Frauenvereins (2 Min)

Angst vor den Taliban: Die Lage der Frauen in Afghanistan

Stand: 15.08.2023 10:06 Uhr

Die Lage der Frauen und Mädchen ist zwei Jahre nach der Machtergreifung durch die Taliban in Afghanistan schlimmer denn je. Ein Gespräch mit Christina Ihle, Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins Hamburg.

In blauem Stoff (Burka) verhüllte Frauen warten in Kabul in einer Schlange, um von einer humanitären Hilfsorganisation verteilte Lebensmittelrationen zu erhalten © Ebrahim Noroozi/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ Foto: Ebrahim Noroozi
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von Sabine Pinkenburg

Vor zwei Jahren, Anfang August 2021, haben die militant-islamistischen Taliban in Afghanistan wieder die Macht übernommen. Tausende Menschen flohen damals aus dem Land, die Bilder von Flüchtenden, die sich verzweifelt an startende Flugzeuge hängten, sind uns noch allen in Erinnerung.

Anders als vor 27 Jahren versprachen die neuen Machthaber zunächst, die Menschenrechte, und damit auch die Rechte der Frauen und Mädchen zu wahren. Doch die Situation ist heute schlimmer denn je: Frauen werden aus der Öffentlichkeit verbannt, inhaftiert und gefoltert. NDR Redakteurin Sabine Pinkenburg hat mit Christina Ihle, der Vorsitzenden des Afghanischen Frauenvereins in Hamburg, gesprochen.

In den ersten Monaten nach der Machtergreifung durch die Taliban haben sich viele Frauen dagegen gewehrt, dass ihre Rechte durch die Taliban beschnitten werden. Für ihren Protest mussten viele von ihnen teuer bezahlen. Viele Frauen verschwanden, wurden festgenommen und sogar gefoltert. Gibt es heute noch Frauen im Land, die sich öffentlich gegen die Taliban zur Wehr setzen?

Christina Ihle: Es ist alles sehr schwierig und auch sehr gefährlich. Das waren Proteste, die vor allem im städtischen Raum erfolgten und Erfolg haben. 80 Prozent Afghanistans ist ländlich, sehr konservativ und patriarchalisch strukturiert. Dort würde es keine Wirkung haben, wenn eine Frau mit einem Plakat auf der Straße protestiert. Da leisten die Frauen auf bewundernswerte Weise anders Widerstand, indem sie zum Beispiel ihre Wohnzimmer öffnen und dort Mädchen unterrichten.

Ich kenne viele Frauen, die Schneidereien bei sich zu Hause eröffnen, sich versammeln, um dann Einkommen zu erwirtschaften, um Ideen zu entwickeln, wie sie sich untereinander helfen können. Das ist auf praktische Weise sehr mutig und großartig.

Seit Ende letzten Jahres dürfen junge Frauen nicht mehr studieren. Mädchen ist der Schulbesuch ab der siebten Klasse verboten. Was bedeutet das für die jungen Frauen?

In blauem Stoff (Burka) verhüllte Frauen warten in Kabul in einer Schlange, um von einer humanitären Hilfsorganisation verteilte Lebensmittelrationen zu erhalten © Ebrahim Noroozi/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ Foto: Ebrahim Noroozi
Frauen in Kabul warten in einer Schlange, um Güter von einer humanitären Hilfsorganisation zu empfangen.

Ihle: Ja, das ist natürlich der drastischste Einschnitt in das Leben von jungen Frauen. Das ist der stärkste Erlass, der die dramatischsten Konsequenzen hat und vielen jungen Mädchen und jungen Frauen die Hoffnung auf Zukunft komplett genommen hat. Viele Frauen, viele Schülerinnen an unseren Schulen, sind zutiefst deprimiert und wissen nicht, wie es für sie weitergehen kann.

Denn alle, die die Schule besuchen, haben den Traum, ihr Land zu gestalten. Jedes Schulmädchen, welches man fragt, sagt: "Ich möchte Lehrerin werden, Ärztin werden, Rechtsanwältin werden, um Afghanistan zu gestalten". Dass ihnen dieser Traum genommen wird, ist fatal.

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Wenn Sie sagen, die jungen Frauen wollen ihr Land gestalten, heißt das, dass sie auch nicht ins Ausland fliehen möchten?

Ihle: Nein, das Gros der Bevölkerung, das sind 38 Millionen Menschen, ist dazu verdammt, im Land zu bleiben und irgendwie sein Leben zu gestalten. Trotz dieser sehr schweren Bedingungen. Viele machen das auf sehr couragierte Weise. Gerade Frauen und junge Mädchen.

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Der afghanische Frauenverein betreibt fünf Schulen in ländlichen Gebieten in Afghanistan. Mit welchen Problemen haben Sie da zu kämpfen?

Ihle: Wir beschulen 5.000 Kinder. 425 Mädchen sind Mädchen der Klasse sieben bis zwölf, die im Moment nicht zu unseren Schulen gehen können. Diese Mädchen betreuen wir im Home Schooling. Das ist nicht ideal. Die Mädchen lernen gemeinsam, täglich. Wir haben Lernmaterial entwickelt, dass die Mädchen möglichst im Selbststudium gemeinsam als Gruppe vorankommen. Das kann nicht dauerhaft so gehen, und das ist natürlich auch für die Mädchen echt belastend. Das ist unsere größte Herausforderung.

Wir werden sehr eng dabei beobachtet, was wir tun. Es gab immer wieder verschiedene Erlasse, zum Beispiel, dass Frauen bei Hilfsorganisationen nicht arbeiten dürfen. Unsere Lehrerinnen sind bei uns angestellt. 60 Prozent unserer 210 Mitarbeitenden sind weiblich. Da mussten wir Sondergenehmigungen beantragen. Das sind Herausforderungen, die wir meistern können. Im Moment noch sehr gut, weil wir durch die Dorfgemeinschaften unterstützt werden. Wir sind schon mehr als 25 Jahre in den Projektregionen, haben diese Schulen schon sehr lange. Die Dorfältesten schützen und unterstützen die und sprechen auch mit den Taliban und erreichen dann, dass wir weiter, wie bisher, arbeiten dürfen.

Lassen die Taliban denn zumindest humanitäre Hilfe aus dem Ausland zu? Und stehen da Mädchen und Frauen womöglich auch hinten an?

Ihle: Ja, sie lassen humanitäre Hilfe zu, was eben schwierig ist. Verteilung findet immer an Verteilorten statt, wo man hingehen muss, um dann die Hilfsgüter abzuholen. Das ist für Frauen extrem schwierig.

Die größte humanitäre Not leiden tatsächlich Frauen ohne männlichen Familienvorstand. Also alleinerziehende Mütter, wo der Vater im Krieg gestorben ist oder krank oder verletzt ist. Diese Frauen versuchen wir bei unseren Hilfseinsätzen besonders zu erreichen. Da muss man sehr kreativ werden.

Wir haben zum Beispiel Esel-Transporte: Wir bringen die Hilfsgüter zu den Familien nach Hause. Man muss eben kreativ werden und sehr genau darauf achten, dass Frauen gleichberechtigt behandelt werden.

Wünschen Sie sich als afghanischer Frauenverein mehr Unterstützung seitens der Bundesregierung?

Ihle: Ja. Wir wünschen uns vor allem eine verlässliche Unterstützung für Afghanistan. Wir haben erlebt, dass gerade die humanitäre Hilfe von der Bundesregierung sehr konkret an politische Forderungen an die Taliban geknüpft wurde. Und das ist ja Überlebenshilfe, die nicht an politische oder ethnische, oder religiöse Forderungen geknüpft wird, weil es wirklich ums Überleben geht. Und dass gedroht wurde, die auszusetzen, wenn politische Forderungen nicht erfüllt werden. Das ist sehr schwierig, denn es geht um Menschenleben. Und Überleben in dringender Not. Da ist eine verlässliche Hilfe ganz wichtig. Das wünschen wir uns sehr von der Bundesregierung.

 

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