Thomas Hüetlin © picture alliance / Geisler-Fotopress Foto: Robert Schmiegelt / Geisler-Fotopress

Rathenau - Gegenwart eines Gewaltakts

Stand: 18.06.2022 06:00 Uhr

von Thomas Hüetlin

Putins Version einer faschistischen Matrix

Die Organisation Consul, ein rechter Geheimbund, der mit Geldern des Adels, der Industrie, aber auch der Reichswehr betrieben wurde, wollte den Umsturz. Ihre Mitglieder begingen politische Morde, organisiert in kleinen Zellen mit Lust und Überzeugung. "Möge er treiben, was die Schwätzer Erfüllungspolitik nennen. Was geht das uns an, die wir um höhere Dinge fechten", feuerte Erwin Kern, der Anführer der Attentäter, seine Mitverschwörer an. "Wir fechten nicht, damit das deutsche Volk glücklich werde. Wir fechten, um es in seine Schicksalslinie zu zwingen."

Die Schicksalslinie, das vermeintlich Höhere, Bessere, Tiefere, die sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte zieht, sie wird immer wieder gerne bemüht, wenn angeblich Gedemütigte zu den Waffen greifen oder zu den Waffen greifen lassen. Vor 100 Jahren waren es die sich um ein privilegiertes Leben betrogen fühlenden Söhne vieler Deutscher - die Attentäter entstammten durchweg sogenannten "guten" Familien. Heute sind es auf internationaler Ebene Putin und seine Günstlinge, die ihre Privilegien verteidigen und andere manipulieren. Wenn man den Weihrauch und den Pulverdampf, mit denen die Gedemütigten ihre Mission gerne verklären, herausnimmt, bleibt von der höheren Schicksalslinie nur jene ultranationalistische Unterwerfungsmechanik, mit der bereits der Staatsrechtler Carl Schmitt Hitlers Nazideutschland unterfüttert hat. Wichtigste Aufgabe des Staates ist es nach Schmitt, den Feind zu definieren. Der Feind, das sind der Fremde und alle anderen, die es darauf abgesehen haben, die angeblich reine Identität des Volkes zu besudeln und zu zerstören. Rathenau eignete sich als Feind bestens. Er war Jude, gehörte der Elite an und kämpfte für Internationalismus und Frieden. "Wenn es eine Macht gibt, die wir mit allen Mitteln zu vernichten die Aufgabe haben, dann ist es der Westen und die deutsche Schicht, die sich von ihm überfremden ließ", schwor Kern die jungen Attentäter auf den Anschlag ein.

Putins Forderung, vermeintlich drogenabhängige Nazis in der Ukraine zu vernichten, ist die oligarchenrussische Version dieser faschistischen Matrix, so sieht es der US-Historiker Timothy Snyder. Übersteigerter, gewalttätiger Nationalismus ist eine ideologische Droge, die die Wunden der Gedemütigten zwar nicht heilt, aber betäubt.

Weitere Informationen
Christoph Türcke © picture alliance/dpa Foto: Jens Kalaene

Gesinnung und Verantwortung: Wie der Krieg die Haltungsfrage stellt

Der Philosoph Christoph Türcke nimmt Stellung zum Ukrainekrieg: Politik brauche in dieser Situation feinstes Fingerspitzengefühl. mehr

Putin ist es nicht gelungen, eine moderne Industrie aufzubauen

Russland ist eines der sozial ungleichsten Länder der Welt, die meisten Menschen leben in Armut, und im Gegensatz zu China ist es Putin nicht gelungen, eine nennenswerte moderne Industrie aufzubauen - jenseits jener Rohstoffe, die in einer klimaneutraleren Welt kaum noch Platz haben werden. Diese Unfähigkeit für seine Bevölkerung eine lebenswerte Zukunft herbeizuführen, tarnen Putin und seine Günstlinge mit immer neuen Kriegen und verbalen Eskalationen. Der Westen als "nuklearer Aschehaufen" ist eine ihrer Lieblingsmetaphern im Dauer-Bombardement der russischen Staatsmedien. Die unausgesprochene Losung lautet: Du magst arm sein und krank und abgehängt von den Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts, aber Du bist immer noch viel mehr wert als jene dekadenten, homosexuellen, frauenfreundlichen, verweichlichten Kreaturen des Westens.

"Europa ist ein Abschaum, der gelernt hat, hinterhältige und widerliche Dinge schön zu nennen", schreibt der russische Schriftsteller Alexander Prochanow, zusammen mit dem Philosophen Alexander Dugin einer der wesentlichen Ideologen, auf die sich Putin stützt. Und Prochanow fährt fort: "Die weiße Rasse siecht dahin: Homoehen und Päderasten beherrschen die Städte, Frauen finden keine Männer mehr." Das sind wahnhafte Gedankengebilde, aber es sind solche, die die Gedemütigten damals wie heute teilen.

Wie das Attentat Kerns mit seinen Verschwörern am 24. Juni 1922 ein Mini-Kreuzzug gegen die Demokratie und die Werte des Westens war, ist Putins Krieg der Beginn einer erneuten Zerstörungsorgie, von der alte und neue Rechtsradikale schwärmen. Kern und seine Verschwörer waren eine Art Avantgarde des Faschismus, der Deutschland später in den Abgrund stürzen sollte, Putin ist der späte Nachfahre solchen Denkens.

Weitere Informationen
Wladimir Putin © picture alliance/dpa/POOL Foto: Mikhail Metzel

"Heiliger Krieg": Historiker analysiert Putins Rede

Anlässlich des "Tags des Sieges" am 9. Mai hat Putin eine mit Spannung erwartete Rede gehalten. Ein Interview mit Jörn Happel. mehr

Putins Vision: "Von Wladiwostock bis nach Lissabon"

Bereits im Jahr 2012 formulierte Putin seine Vision eines Europas unter russischer Führung, es sollte, so skizzierte er damals, "von Wladiwostock bis nach Lissabon gehen". Kaum jemand von den verantwortlichen Politikern der EU nahm ihn ernst oder wollte ihn ernst nehmen. Die billigen Rohstoffe waren wichtiger. Dann kam Putins Überfall auf die Ukraine. Wann und wie sein Krieg endet, weiß kein Mensch. Derzeit scheint ein eingefrorener Konflikt, der immer wieder aufflammt, die wahrscheinlichste Prognose.

Was immer auch kommt - der Westen sollte in Putin nicht noch einmal die Illusion nähren, dass es sich lohnen könnte, seine faschistischen Vorstellungen von der Zukunft herbeizubomben. Auch dies ist eine historische Lehre aus den Mordtaten der rechten Terrorzellen vor 100 Jahren. Wäre man damals konsequenter gegen die Feinde der Demokratie vorgegangen, hätte die deutsche Geschichte einen anderen Verlauf genommen.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 18.06.2022 | 13:05 Uhr

NDR Logo
Dieser Artikel wurde ausgedruckt unter der Adresse: https://www.ndr.de/kultur/Rathenau-Gegenwart-eines-Gewaltakts,rathenau120.html
Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Schauspieler David Bennent (links) und Regisseur Volker Schlöndorff beim Filmkunstfest MV auf der Bühne © Frank Hormann/dpa Foto: Frank Hormann

Filmkunst-Ehrenpreis für Schlöndorff - "Fliegender Ochse" für Dresen

Volker Schlöndorff ist beim Filmkunstfest MV mit dem Ehrenpreis ausgezeichnet worden. Andreas Dresens Film "In Liebe, Eure Hilde" gewinnt den Hauptpreis. mehr