Thomas Hüetlin © picture alliance / Geisler-Fotopress Foto: Robert Schmiegelt / Geisler-Fotopress

Rathenau - Gegenwart eines Gewaltakts

Stand: 18.06.2022 06:00 Uhr

Am 24. Juni 1922 wurde Walther Rathenau von Rechtsradikalen ermordet. Der Journalist und Autor Thomas Hüetlin hat den Weg zur Ermordung Rathenaus kürzlich in einem Buch nachgezeichnet. In seinem Essay erkennt er nun hochaktuelle Bezüge weit über Deutschland hinaus.

von Thomas Hüetlin

Demütigung - dieses große Wort fällt immer wieder, wenn darüber gerätselt wird, warum Putin am 24. Februar diesen Krieg begonnen hat und ihn mit einer Brutalität und Verachtung führt, die uns in Europa schockiert und Sorgen bereitet. Diese Demütigung hat weniger mit der Ost-Erweiterung der Nato zu tun, als vielmehr mit dem Zerfall der Sowjetunion in den 80er-Jahren - ein Vorgang, den Putin als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts beschrieben hat. Die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts war für ihn nicht der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges - mit den 27 Millionen Toten, die das Unternehmen "Barbarossa" auf der sowjetischen Seite forderte. Die größte Katastrophe ist für Putin ein Vorgang, der nicht mit dem Verlust an menschlichem Leben verbunden war, sondern bestenfalls mit dem Verlust an Gebieten, die sich das Sowjetimperium einverleibt hatte. Es geht Putin um Macht. Geschwundene Macht, die er nun wieder auszuweiten versucht durch einen imperialen Krieg.

Der Vertrag von Versailles: eine Zumutung

Demütigung kann ein sehr starkes Gefühl sein. Es war weit verbreitet in Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem aufgezwungenen Friedensvertrag von Versailles. Der Journalist Paul Becker schrieb damals über Versailles und die Folgen: "Worte reichen nicht aus, um der Empörung und dem Schmerz Ausdruck zu geben. Das ist Verrat am deutschen Volk selber, das die Folgen durch die Jahrhunderte des Niedergangs und des Elends zu tragen haben wird." Jahrhunderte des Niedergangs und des Elends, so düster blickten Becker und viele Deutsche in die Zukunft. Lieber sofort einen neuen Krieg beginnen, als sich diesem Frieden fügen.

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Undatierte Aufnahme des deutschen Außenministers Walther Rathenau, der am 24. Juni 1922 in Berlin einem Attentat zum Opfer fiel. © picture-alliance / dpa

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Und in der Tat: Der Vertrag von Versailles war eine Zumutung. Selbst General Foche, der Oberbefehlshaber der Alliierten an der Westfront gab zu: "Dies ist kein Friedensvertrag, das ist bestenfalls ein Waffenstillstand auf 20 Jahre." Foche sollte mit seiner Einschätzung Recht behalten. Fürchterlich Recht behalten. Der Versailler Vertrag bedeutete für das Deutsche Reich Gebietsverluste im Osten und Westen, ein Heer zurückgestutzt auf 100.000 Mann und die grotesk hohe Summe von 20 Milliarden Goldmark an Kriegsschulden. Der Vertrag war darauf angelegt, Deutschland so schnell nicht wieder gefährlich werden zu lassen. Ein tiefes Misstrauen, das der spätere britische Premier Winston Churchill so beschrieb: "Wenn man den Hunnen nicht zu Füßen hat, greift er uns bald wieder an die Gurgel."

Walther Rathenaus "Erfüllungs-Politik"

Walther Rathenau, Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau, Leiter der kriegsverlängernden Reichsrohstoffabteilung im Ersten Weltkrieg, sah den Vertrag von Versailles ebenso als Demütigung, aber seine Antwort auf diese Demütigung hieß "Erfüllungs-Politik". Also durch die friedliche Erfüllung des Vertrages allmählich wieder das Vertrauen der siegreichen Nachbarn erwerben. Wieder auf Augenhöhe kommen. An die Verhandlungstische. Und schließlich wie bei einem Strafgefangenen, der sich gut führt, eine allmähliche Reduzierung der Deutschland auferlegten Kriegsschulden erwirken. Das war Rathenaus Plan, den er umzusetzen versuchte, zuerst als Wiederaufbauminister, schließlich als Außenminister.

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Wandel durch Handel heißt das heute. Frieden, Aussöhnung und wirtschaftliche Zusammenarbeit, am besten eingebunden in eine kooperierende Staatengemeinschaft. Rathenau schwebte etwas vor, das man als Vorstufe der EU bezeichnen könnte. Die meisten gedemütigten Deutschen, die den Ersten Weltkrieg als Chance gesehen hatten, Deutschland als mächtigste Kraft Europas zu etablieren, wollten aber von Kooperation und wirtschaftlicher Zusammenarbeit nichts wissen. Sie wollten herrschen. Bei der großflächigen Ausplünderung Afrikas war man zu spät gekommen. Folglich müsse Deutschland seine Kolonien im Osten Europas errichten. Rathenaus Plan von einer Westbindung wurde an den Stammtischen, aber auch von vielen Universitäts-Professoren als Verrat gegeißelt. "Schlagt tot den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau", hieß bald eine Parole, die zum Gassenhauer wurde - auch in besseren Kreisen. Die Wut hatte begonnen, zum guten Ton zu gehören.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 18.06.2022 | 13:05 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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