Deutsch-deutscher Kunsthandel: Legal oder ominös?

Stand: 23.11.2020 15:43 Uhr

Zwei Kugelkopfschreibmaschinen und ein Diaprojektor - das war der Tauschwert für ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert von Willem Gruyter. In den 70er-Jahren ging das Bild vom Schifffahrtsmuseum Rostock in den Bestand des Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven. War dieses Tauschgeschäft legal?

von Sylvie Kürsten

Die DDR war ein Kunststaat, so sagen Kunstsoziologen. Die Kultur und die Erziehung des Volkes mit den Mitteln der Kunst, das war einer der Grundpfeiler der sozialistischen Gesellschaft. Doch absurderweise nahm das Regime es manchmal doch nicht so genau mit dem Wahren, Schönen, Guten. Immer wieder wurden Gemälde zu Devisen gemacht - mit Volkseigentum aus offiziellen Museen, aber auch mit Sammlungen aus Privatbesitz. Über solche Formen skrupelloser Verwertung von Kunstwerken im Namen von Staat und Partei wird seit einigen Jahren vermehrt berichtet, auch in der NDR Reihe Museumsdetektive.

30 Jahre nach der Wende wird die Kunst- und Kulturpolitik der DDR systematisch aufgearbeitet: auch durch das Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg, das seit 2017 Grundlagenforschung zu den Kulturgutentziehungen in der DDR sowie der Sowjetischen Besatzungszone betreibt. Ende November 2020 hält es seine zweite Fachtagung zum Thema ab. Kürzlich ist ein Findbuch beziehungsweise ein Spezialinventar publiziert worden, das auf 600 Seiten Hinweise zu Beteiligungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) bei Kulturgutverlusten liefert.

Das Aktenzeichen "Rostock AOP 3258/87"ist in dem Findbuch besonders: in dem Operativen-Stasi-Vorgang (OV) "Kogge" scheinen zwei Schwestern-Schifffahrtsmuseen aus Ost und West auf schicksalshafte Weise verbunden. Warum wurde das Bild "Vor Bremerhaven" Rostock in die westdeutsche Hafenstadt ausgeliehen und kam es jemals zurück? Warum gab es zwischen 1986 und 1989 einen Stasi-Vorgang dazu? Hängt dieser Fall mit bereits bekannten Verkäufen über Schalck-Golodkowskis berüchtigte Kunst-Außenhandelsfirma zusammen? Oder waren hier ganz andere Mechanismen am Werk? Fragen, die im 30. Jahr der Vereinigung  zweier Gesellschaften und Museumslandschaften interessant erscheinen.

Ein Bild in Bremerhaven wirft Fragen auf 

Eine Person schaut auf ein Gemälde mit Schiffen und goldenem Rahmen. © picture-alliance/dpa
Tauschwert für dieses Gemälde: zwei Kugelkopfschreibmaschinen und ein Diaprojektor.

Das Bild hängt in Bremerhaven, heißt hier "Fort Wilhelm" und ist aus dem visuellen Gedächtnis der Hafenstadt nicht mehr wegzudenken. Schließlich zeigt das 1870 von Jakob Willem Gruyter gefertigte Gemälde die Mündung der Geeste in die Nordsee. In der Bildmitte ist ein Raddampfer zu sehen - ein Zeichen maritimer Moderne, weswegen sich die Behörden von Bremerhaven immer wieder gern mit dem Bild schmücken. Doch weiß man hier eigentlich um die Geschichte, die dieses Gemälde über seine Herkunft erzählt? Wie ist es hierher gekommen?

Bis 2017 scheinbar nicht. Erst dann stolpert die Provenienzforscherin Kathrin Kleibel am Schifffahrtsmuseum Bremerhaven über das Gruyter-Gemälde. Der erste Blick auf die Bild-Rückseite verrät nicht viel: nur die Inventar-Nummer I/02672/83, keine Herkunftsstempel. Ankaufsbelege sind ebenso rar, weil deutsche Museen nicht länger als jeder normale Bundesbürger archivieren müssen: also zehn Jahre. Im Inventarbuch gibt es nur einen mickrigen Hinweis: Das Bild soll 1983 dem Haus zugegangen sein, durch den Stifter John Mahn.

Kathrin Kleibl. © NDR
Kathrin Kleibl ist Provenienzforscherin am Schiffahrtsmuseum Bremerhaven.

Dass der aber schon zehn Jahre zuvor verstorben war, macht die Provenienzforscherin stutzig: "Ich habe gemerkt, dass da irgendwie Unstimmigkeiten sind in den Angaben und dachte, da musst du jetzt mal nachgehen", so Kleibl. Was war hier passiert? Woher war das Bild gekommen? Nur ein älterer Depotmitarbeiter gibt ihr einen Tipp: Soweit er weiß soll das Bild aus dem Rostocker Schifffahrtsmuseum sein. Ein Anruf bei dem ehemaligen Direktor Peter Danker-Carstensen bestätigt dies nicht nur, sondern lässt Kleibl Hören und Sehen vergehen.

Aufklärungsversuche nach der Wende

Peter Danker-Carstensen war von 1994 bis 2015 Direktor des Schifffahrts- und Schiffbaumuseums in Rostock - damals noch wenig vertraut mit der DDR-Museumsgeschichte und heute als Redakteur des Museumsverbandes MV vielleicht einer ihrer besten Kenner. "Was das ominöse Bremerhaven-Bild angeht", so Danker-Carstensen, "gab es zwar immer wieder Gerüchte hinter vorgehaltener Hand, da soll es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein." Aber mehr erfährt der gebürtige Schleswig-Holsteiner anfänglich nicht.

Menschen auf einer Demonstration halten Schilder hoch. © Roland Hartig
Die Bürger forderten nach dem Ende des DDR-Regimes Aufklärung. Auch beim Thema Kulturgut. Foto: Roland Hartig

Er kommt einfach ein paar Jahre zu spät, um persönlich zu erleben, wie gleich nach der Wende, im Zuge der Aufarbeitungen des DDR-Regimes in Rostock auch der Umgang mit dem volkseigenen Kulturgut zum öffentlichen Debatten-Thema wird. Zu diesem Zeitpunkt ist es bereits ein offenes Geheimnis: In den Rostocker Museen sind mehrere Hundert Sammlungs-Objekte auf ungeklärte Weise verschwunden. Selbst Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln dazu. Das Stadtmagazin Greif fragt 1991 unter dem Titel "Wo sind sie geblieben?" nach dem Verbleib des berühmten Stephan-Jantzen-Zimmers, einem bedeutenden gotischen Goldring und anderen Objekten, die möglicherweise gestohlen oder aber veruntreut worden sind. Die Depots waren damals nicht gesichert und so manches Objekt, das restauriert wurde, war nicht mehr in den Bestand zurückgekommen.

Für Ingrid Schmidt, ehemalige Sammlungsleiterin des Rostocker Schifffahrtsmuseums, war die Verteidigung ihrer Sammlung trauriger Alltag: "Da war zum Beispiel von der Parteileitung ein Auftrag. Wir sollten ein Kapitänsbild herausgeben, zum Geburtstag oder so. Und da haben wir uns natürlich gewehrt". Schmidt lernt schnell, dass scheinbar stimmt, was sie in ihrer Ausbildung in der DDR gelernt hat: Die meisten Raube im Museum geschehen durch Mitarbeiter mit "klebrigen Fingern". Wiederholt leistet sie Widerstand, doch nicht immer ist Schmidt involviert. Von dem Vorgang um das Bremerhaven-Bild habe selbst sie als ehemalige Sammlungsleiterin so gut wie nichts gewusst, beteuert Schmidt über 40 Jahre später.

Fragwürdiger Wechselkurs

Gebäude des ehemaligen Schiffahrtsmuseums in Rostock © NDR
In diesem Gebäude war das Rostocker Schifffahrtsmuseum bis 2003 untergebracht.

Umso erstaunlicher, was dann in der Wendezeit ans Licht kommt. Durch Presseberichte und öffentliche Debatten entsteht viel Druck. Ein freiwilliger Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft Rostock formiert sich, noch bevor dieses Instrument juristisch und verwaltungsrechtlich etabliert ist und legt die Geschichte um das "Gruyter-Bild" Stück für Stück frei: Offenbar wurde der echte Niederländer 1976 gegen zwei Kugelkopf-Schreibmaschinen und einen Diaprojektor im Gegenwert von 11.000 DM zwischen dem Schifffahrtsmuseum Rostock und Bremerhaven getauscht. Das mutet komisch an und scheint aus heutiger Sicht fragwürdig, ist aber offenbar korrekt.

Die Presse vermeldet kurz danach, dass mit dem Tauschvorgang "keinerlei Unregelmäßigkeiten" festgestellt werden konnten. Die erste Kultursenatorin der Hansestadt Rostock versichert, "dass der Vorgang den damaligen Gesetzmäßigkeiten entsprach" und stellt dem Bremerhavener Museum eine Art "Ehrenerklärung" aus: Das Museum und dessen Direktor "haben sich nicht an dubiosen SED-Machenschaften beteiligt. […] Die Weste der Bremerhavener ist also blütenweiß." Vielleicht ein diplomatischer Schachzug, in einem Moment, in dem Bremen als neue Partnerstadt von Rostock gerade ein Millionen schweres Hilfsprogramm auflegt.      

Peter Danker-Carstensen.
Ehemaliger Direktor des Schifffahrts- und Schiffbaumuseums in Rostock: Peter Danker-Carstensen.

Doch für den Historiker Danker-Carstensen ist die Geschichte hier noch lange nicht zu Ende. Er fragt sich, ob der Schätzwert des Bildes damals überhaupt richtig ermittelt worden ist. Denn die Ausfuhr von Kulturgütern aus der DDR auf Basis ihres Kulturgutschutzgesetzes war nur legal, wenn die Objekte nicht über einem bestimmten Geldwert lagen und nicht eine hochrangige Bedeutung für die sozialistische Nationalkultur hatten. "Juristisch unbedenklich, aber moralisch doch zweifelhaft", so übertitelt Danker-Carstensen deswegen warnend seine eigenen Aufsätze zu den Geschehnissen um das Gemälde von de Gruyter. Auch, weil der damalige Untersuchungsausschuss in seinen Augen ein stumpfes Schwert war: "Der Arbeitsauftrag des Untersuchungsausschusses konnte gar nicht erfüllt werden, weil er die nötigen Befugnisse noch gar nicht hatte, außerdem standen ihm die Akten des MfS noch nicht zur Verfügung. Und was vielleicht genauso wichtig ist, weil es ja die Netzwerke der Genossen noch gab."

Selbst das MfS war machtlos

Aufklärung bietet der "OV Kogge" der Stasi. Das Findbuch des Zentrums Kulturgutverluste weist ihn aus - und was Ausgangspunkt unserer Recherche war. Seit 1995 ist er öffentlich einsehbar. Peter Danker-Carstensen kennt ihn fast in- und auswendig. Die 13 Bände lesen sich wie ein tragikomischer Kunst-Krimi, bei dem die notorisch Mangel leidende Museumslandschaft in Rostock lediglich die Bühne zu sein scheint - für die Machenschaften eines mehr oder weniger korrupten Funktionärsnetzwerkes von der Bezirks- bis zur Staatsebene.

"Im OV wird Dr. Lachs, Johannes operativ bearbeitet. Mit der Zielstellung, Beweise für die Straftaten zum Nachteil des sozialistischen Eigentums zu schaffen und strafrechtliche Maßnahmen gegen ihn einzuführen. Auf der Grundlage der einzuleitenden Ermittlungsverfahren und des Nachweises der kriminellen Motive für die Ausfuhr des Ölbildes "Vor Bremerhaven". Erste Zeilen im OV Kogge

Johannes Lachs, damaliger Leiter des Schiffahrtsmuseum Rostock, ist der Mann, der den Bildertausch zwischen Rostock und Bremerhaven 1976 eingefädelt hat. Er meldet ihn bei den Kulturobersten an, will die technische Ausstattung seines Hauses aufbessern, Kontakte mit westdeutschen Kollegen pflegen - und vielleicht auch persönlichen Vorteil daraus gewinnen. Für ein Bild, das schon vom Titel her im Nordwesten besser aufgehoben war: "Vor Bremerhaven".   

Verantwortungslosigkeit: Ein Strukturelement des SED-Regimes?

Ursprünglich nicken die Kulturfunktionäre das Ansinnen von Johannes Lachs ab, doch nur kurze Zeit später fällt der passionierte Museums-Mann, selbst Parteimitglied und IM, aus verschiedenen Gründen in Ungnade. Vor allem aber soll er Platz machen für Jörg Meyer, einen Agenten, der in Dänemark aufgeflogen war. Der soll nun mit einem neuen Posten entschädigt werden. "Johannes Lachs hat das System gut genutzt. Er hat das System natürlich auch mitgetragen. Und er hat es sozusagen ausgereizt, bis ihm das auf die Füße gefallen ist", so Peter Danker-Carstensen über seinen ehemaligen Vorgänger. Lachs musste gehen, alle späteren Rehabilitierungsversuche blieben erfolglos. 

Der Museumsmann musste 1982 nicht gehen, weil das MfS ihm wirklich etwas nachweisen konnte, sondern einfach weil ein anderer seinen Platz einnehmen sollte. In Bezug auf das Bild, das Lachs nach Bremerhaven gegeben hatte, konnte ihm indessen nichts nachgewiesen werden - zu viele Funktionsträger wussten davon. Mehrere in den Fall verwickelte Personen kommen in den bemerkenswert redseligen Kogge-Akten zu Wort, meinen "dass das MfS keine Möglichkeit hat, die Sache mit dem Bild zu einem Ergebnis zu bringen, weil zu hoch gestellte Persönlichkeiten hierin verwickelt sind". Auch Danker-Carstensen gibt sich erstaunt: "Das hat das MfS so wunderbar dokumentiert, dass hohe SED-Funktionäre sowohl beim Rat des Bezirkes als auch beim Kulturministerium in Berlin eingeweiht waren, und das durchgewunken haben, diesen Deal. Und da stieß dann sogar das MfS an seine Grenzen, obwohl die ja auch gerne gegen eigene Genossen ermittelt haben."

Selbstbediengungsläden für SED-Funktionäre

1989 schließt das MfS seine Akten. Doch dank des Findbuchs vom Zentrum Kulturgutverluste wird der Blick auf den Vorgang und dieses beredte Dokument gelenkt. Es zeigt, wie aus der engagierten Kulturpolitik in der DDR ganz schnell Politik gegen die Kultur wurde - indem Sammlungen nicht gehütet wurden, sondern auch Selbstbediengungsläden für Funktionäre waren. Damalige Museumsmitarbeiter beriefen sich nicht selten darauf, unter Weisung gehandelt zu haben, so Danker-Carstensen.

Aus dieser Perspektive scheint es im Falle des Bremerhaven-Bildes noch einmal gutgegangen: Schließlich ist es nicht in einer privaten Sammlung verschwunden, sondern in einem Museum für alle sichtbar. "Ich denke, dass jeder da auf seine Art profitiert hat. Man muss das alles im Spiegel der Zeit sehen", so die Provenienzforscherin Kleibl vom DSM in Bremerhaven abschließend.

Doch trotzdem bleiben Fragen offen: Hat man im Westen wissentlich die missliche Lage der Kollegen im Osten ausgenutzt? War der Wert des Bildes richtig geschätzt und eine Ausfuhr wirklich legal? Es ist interessant, wie ein harmloses niederländisches Seestück von 1870 von den Wogen und Wirren deutsch-deutscher Geschichte von den 70ern bis heute erzählt. Und wie schwierig eine genaue Positionsbestimmung selbst jetzt dazu ist.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Kultur | 23.11.2020 | 14:55 Uhr

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Malerei

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