Junge Frau mit halblangen kurzen schwarzen Haaren. Es ist die Choreographin und Tänzerin Katja Heitmann. © Hanneke Wetzer Foto: Hanneke Wetzer
Junge Frau mit halblangen kurzen schwarzen Haaren. Es ist die Choreographin und Tänzerin Katja Heitmann. © Hanneke Wetzer Foto: Hanneke Wetzer
Junge Frau mit halblangen kurzen schwarzen Haaren. Es ist die Choreographin und Tänzerin Katja Heitmann. © Hanneke Wetzer Foto: Hanneke Wetzer
AUDIO: Katja Heitmann bei den „KunstFestSpielen Herrenhausen“ (55 Min)

Katja Heitmann: Die Bewegungen eines Menschen machen ihn aus

Stand: 27.05.2024 00:01 Uhr

Mit der Performance "Motus Mori: Reliquiem" verwandelt Katja Heitmann Alltagsbewegung in Kunst. Ihr Vater habe sie dazu inspiriert, erzählt sie.

von Andrea Schwyzer

Katja Heitmann ist Choreographin, Tänzerin aus Hamburg und lebt heute in den Niederlanden. Bei den 15. "KunstFestSpielen Herrenhausen" in Hannover zeigt sie die Performance "Motus Mori: Reliquiem", ein Archivprojekt mit unzähligen Bewegungen und kleinsten Gesten. Die Künstlerin begibt sich in ihrem Werk auf die Suche nach einer alternativen Form der Geschichtsschreibung, die nicht in Büchern oder auf digitalen Plattformen, sondern in Körpern gespeichert ist. Über ihr Bewegungsarchiv und was ihr Vater damit zu tun hat, spricht sie mit Andrea Schwyzer in NDR Kultur à la carte.

Was verbirgt sich hinter diesem Begriff "Motus Mori"?

Katja Heitmann: "Motus Mori" ist lateinisch, Modus bedeutet Bewegung und Mori bedeutet wortwörtlich Sterben und Vergänglichkeit. Man könnte aber auch von Aussterben sprechen. Wenn es etwas poetischer klingen soll, sage ich immer, es ist ein Archiv der aussterbenden und menschlichen Bewegungen.

Was sind das für Bewegungen?

Heitmann: Es sind eigentlich alltägliche Bewegungen, so wie sich jeder bewegen kann. Man kann sich natürlich nicht alltäglich bewegen. Wichtige Merkmale sind, wie jemand sitzt oder läuft. Wenn jemand weit weg, zum Beispiel am Ende einer Straße, läuft und man von hinten denkt, das könnte mein Vater sein. Dann dreht die Person sich um, und es ist jemand anderes. Das sind Bewegungen, woran man jemanden erkennt.

Wie passt das mit dem Aussterben zusammen?

Heitmann: Ich hatte ein Projekt, bei dem ich mit ganz vielen Jugendlichen gearbeitet habe. Das waren 50 Jugendliche: Wenn die lachten und mich anguckten, sah ich überall dieselben Zähne, weil sie alle durch Zahnspangen gerichtet wurden. Ich komme aus einer Generation, wo das noch nicht gemacht wurde. Eine Tendenz ist auch das Altern. In der Wissenschaft ist man dabei, zu gucken, wie man den Altersprozess verlangsamen kann. Da habe ich mich irgendwann gefragt, was passiert denn, wenn man den Menschen immer weiter optimalisieren würde, verschwindet dann nicht eine bestimmte Menschlichkeit? Ich war interessiert und wollte wissen, was diese Menschlichkeit ist. Was ist es, was den Menschen menschlich macht? Das ist vielleicht nicht immer das, was wir am angenehmsten finden, aber das ist vielleicht auch das, was uns letztlich voneinander unterscheidet.

Es geht ganz stark darum, jemanden über die Bewegung zu erkennen. Jetzt haben Sie in den vergangenen fünf Jahren rund 2.000 Spenderinnen und Spender für dieses Projekt gewinnen können. Diese Sammelleidenschaft oder dieses Interesse für diese Art von Bewegung, woher kommt das?

Heitmann: Die Idee, ein Archiv für Bewegung zu machen, entstand vor sechs Jahren, als mein Vater verstarb. Was bei ihm anders war als bei anderen, war, dass er nichts hinterlassen hat. Er hatte kein einfaches Leben und da war einfach nichts, kein Haus, kein Geld, keine Sachen, da gab es nur einen Entrümpler und das war's. Nach der Beerdigung hatte ich das Bedürfnis, irgendetwas von ihm halten oder erinnern zu wollen. In meiner Erinnerung war er sehr anwesend.

Ich glaube, weil er nicht mehr da war, konnte ich mir morgens immer sehr einfach vorstellen, wie er jetzt am Küchentisch sitzen würde. Er wird nie direkt vor dem Tisch sitzen, sondern immer schräg mit den Beinen zur Seite und das eine Bein über das andere geschlagen, aber es gab immer eine Lücke dazwischen. Er würde Menschen nie direkt in die Augen schauen, sondern immer ein bisschen von der Seite des Auges.

Ich fing auf der Straße an, mir zu überlegen, wie lief mein Vater eigentlich? Eine Weile bin ich wie er gelaufen. Dadurch ist mir etwas klar geworden. Man denkt, man hat nichts, aber eigentlich sind es die Bewegungen eines Menschen, die man hat. Wenn man sich an sie erinnert, kann man sie nicht mehr verlieren. Dann dachte ich auf einmal, warum sehen wir einander nicht auf diese Art und Weise? Kann man nicht einfach damit anfangen, bevor jemand verstirbt?

Das Gespräch führte Andrea Schwyzer.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur à la carte | 27.05.2024 | 13:00 Uhr

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Tanz

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