Akzeptable Schwächen: Tanztheater "Zer-brech-lich" in Hannover
Das Tanztheater Zer-brech-lich hatte Uraufführung beim Festival "Theaterformen" am Ballhof in Hannover. Es ist der Auftakt einer Reihe zu selbstbestimmter Kunst von Menschen mit Behinderung - eine Kooperation von Schauspiel und Staatsoper Hannover.
"Ich bin weiß, ich bin elfeinhalb Smartphones groß, wenn man sie eins neben das andere legt, trage meine blonden Haare in einem Bob." Darstellerin Victoria Antonova steht an einem knallgrünen Pult und beschreibt sich und den Raum. Eine Stimme aus dem Off übersetzt ihre Worte ins Deutsche, auch sehgeschädigte Menschen können sich so ein Bild machen.
Antonovas Körper ist aufgrund eines Unfalls mit Narben überzogen. Das sehe cool aus, erinnere an Tattoos, sagt die Griechin mit lettischen Wurzeln. Sie habe sich gewundert, dass noch keine Modelagentur angerufen habe – ein Selbstbewusstsein, das sie sich hart erarbeiten musste. "Es war ein langer Weg, bis ich mich in meiner Haut wohl gefühlt habe und auf der Bühne stehen konnte, um mich so zu präsentieren wie ich bin. Es ist eine Herausforderung, aber eine wunderbare Herausforderung. Mit meinen Kolleginnen gibt es ein gutes Miteinander. Wir lernen voneinander - durch unsere Begrenzungen, unsere Stärken. Wir versuchen, die bestmöglichen Lösungen für einander zu finden. Wenn ich etwas nicht kann, machen wir es gemeinsam möglich."
Zerbrechlichkeit akzeptieren bei sich und Anderen
Alice Giuliani hat eine chronische Erkrankung, die ein Bein schwächt. Laila White läuft mit Krücken über die Bühne. Dann bricht Victoria Antonova durch eine Wand aus Schaumstoff-Würfeln und bleibt liegen. Zerbrechlichkeit sichtbar zu machen, ist für den Choreographen Alessandro Schiattarella, der selbst an einer Muskelschwäche leidet, wichtig. "Bei einem Projekt mit einem Tänzer, der empfindliche Knochen hat, habe ich Kostüme gezeichnet, die seinen Körper schützen. Das brachte mich auf die Frage, wie sich die Gesellschaft verändern würde, wenn es uns mehr erlaubt wäre, unsere Zerbrechlichkeit zu teilen. Wären wir empathischer und würden wir uns mehr unterstützen? Wenn wir akzeptieren würden, dass wir selbst zerbrechlich sind, könnten wir auch die Zerbrechlichkeit von anderen akzeptieren."
Geräusche machen und Rausgehen erlaubt
Das ist im Publikumssaal des Ballhofs bereits geschehen. In der ersten Reihe liegen Sitzsäcke, gedacht für Personen mit chronischen Schmerzen, die schlecht auf Stühlen sitzen können. Um allen den Besuch zu ermöglichen, bietet das Festival die meisten seiner Vorstellungen als sogenannte „relaxed performances“ an. Geräusche machen und Rausgehen sind erlaubt, sagt Festivalleiterin Anna Mülter. "Alle Arten, im Publikum zu sitzen, zu sein, sind willkommen. Das heißt, wenn da zum Beispiel Menschen mit Tourette sind, die bestimmte, unkontrollierbare Äußerungen machen. Wenn Menschen mit Autismus im Publikum sind, die so bestimmte kleine Bewegung mit zum Beispiel den Händen oder so machen, dann ist das alles willkommen, um einfach diesen Raum zu öffnen, dass er Anwesenheit auf so vielfältige Weise erlaubt, wie wir Menschen ja auch vielfältig sind."
Man ist, was man sich vorstellen kann
Zugleich wird das Thema Zerbrechlichkeit in den Songs der Schweizer Musikerin Gina Été transportiert. Mal beschreibend, dann wieder wütend, singen die drei Darstellerinnen sie im Wechsel. Am Ende dürfen diese sich dann selbst neu erfinden: Vor einem Greenscreen schlüpfen sie in verschiedene Kostüme und fliegen per Videoprojektion als Vogel durch die Lüfte oder flosseln als Meerjungfrau im Korallenriff. Man ist eben auch, was man sich vorstellen kann, zu sein.
Akzeptable Schwächen: Tanztheater "Zer-brech-lich" in Hannover
Das Theater schaut mit neuen Augen auf menschliche Zerbrechlichkeit - selbstbestimmte Kunst von Menschen mit Behinderung.
- Art:
- Bühne
- Datum:
- Ort:
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Ballhof Eins
Ballhofplatz 5
30159 Hannover
