Fatma Aydemir: "Dschinns" Cover © Hanser

"Dschinns": Fatma Aydemirs intensiv erzählter Familienroman

Stand: 17.03.2022 14:53 Uhr

In ihrem neuen Buch führt Fatma Aydemir ihr Lesepublikum wieder in das Milieu einer deutsch-türkischen Familie. Doch steht dieses Mal nicht eine Person, sondern die ganze Familie im Mittelpunkt.

von Katja Weise

Eine Familie, vier Kinder, sechs Kapitel: Fatma Aydemir widmet jedem Mitglied der Familie Yilmaz eines und wechselt jedes Mal konsequent Perspektive und Tonlage: "Ich glaube, in meinem Hinterkopf hat sich das schon so verankert, dass ich mich mit diesem Buch ein bisschen dagegen wehren wollte, dass ich von einer Figur erzähle, und die wieder zur Stellvertreterin von allen wird", erklärt Aydemir. "Sondern ich tauche in verschiedene Köpfe ein und schildere die diversen Probleme, die innerhalb einer Familie zusammenkommen."

Deutsch-türkische Lebenswirklichkeit in den 1990er-Jahren

Hüseyin kommt Anfang der 70er-Jahre nach Rheinstadt, ein fiktiver, durch Industrie geprägter Ort im Süden Deutschlands. Später holt er Frau und zwei Kinder nach. Die älteste Tochter Sevda bleibt in der Türkei, um die Großeltern zu unterstützen. Ein weiterer Sohn, Ümit, wird in Deutschland geboren. 1999 ist er 15 Jahre alt. Hüseyin will in diesem Jahr in Frührente gehen und hat sich einen Lebenstraum erfüllt - eine eigene Wohnung in Istanbul:

Du hast deine Tage in drei Schichten gelebt, Hüseyin, hast alle Sonntagsdienste, Feiertagsdienste, Überstunden übernommen, hast von allen vorhandenen Zulagen in der Metallfabrik zu profitieren versucht, um die Familie durchzubringen. (..). Und nun hast du es endlich geschafft. Leseprobe

Doch Hüseyin erliegt in der neuen Wohnung einem Herzinfarkt. Die Familie reist, statt zur Besichtigung, zur Beerdigung nach Istanbul. Aus dieser "unerhörten Begebenheit" entwickelt Fatma Aydemir ihren Roman. Mit jeder Figur blicken wir auf einen anderen Ausschnitt deutsch-türkischer Lebenswirklichkeit in den 1990er-Jahren.

"Ich fand dieses Jahrzehnt spannend, weil ich es auf der einen Seite als Kind erlebt habe - auf der anderen Seite habe ich, je älter ich geworden bin, auch vieles verstanden", erzählt Aydemir. "Zum Beispiel diese subtile Angst, die immer in der Luft war für migrantische Familien, auch für meine Familie, als sich diese ganzen Brandanschläge ereignet haben. Rechte Gewalt war noch mal anders gegenwärtig in dieser Zeit."

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Die Autorin Fatma Aydemir im Porträt.  Foto: Sibylle Fendt

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Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile

Die Autorin hat sich viel vorgenommen. Ümit fühlt sich zu einem Freund aus der Fußballmannschaft hingezogen, Peri, die nächstältere Schwester, ist die erste in der Familie, die studiert und überzeugte Feministin. Hakan gerät früh mit der Polizei in Konflikt und sieht sich konfrontiert mit Fremdenfeindlichkeit und Vorurteilen; Sevda muss erleben, dass ihre Wohnung in Brand gerät. Ihre Kinder können zum Glück gerettet werden:

Anders als in Solingen und Mölln hatte es bei ihrem Brand keine Toten gegeben. Gott sei Dank waren alle wohlauf. Sevda hatte vor lauter Dankbarkeit wieder angefangen, die Gebete ihrer Großmutter leise vor sich hin zu flüstern, wann immer sie ihre Kinder beim Spielen beobachtete. Doch dass es keine Toten gab, bedeutete auch, dass die Brandursache niemals wirklich untersucht werden würde. Leseprobe

Kaleidoskop einer Familie

Das Kapitel über Sevda ist das vielleicht stärkste in dem Roman, aber auch die anderen Geschichten nehmen mit - in doppelter Hinsicht. Einzig Hakan bleibt ein wenig fremd, der älteste Sohn, der sich dagegen sträubt, nun die Rolle des Familienoberhauptes einzunehmen, der sich an seinem Vater abgearbeitet hat, weil dieser ihm nicht den Rückhalt geben konnte, den der Sohn sich gewünscht hätte.

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"Es war mir total wichtig, diese Männer auch in ihrer eigenen Fragilität zu zeigen, weil ich nicht glaube, dass patriarchale Strukturen etwas sind, von dem nur Männer profitieren und unter dem nur Frauen leiden", meint Aydemir. "Ich glaube, die Männer leiden genauso daran und Frauen sind genauso daran beteiligt, sie aufrecht zu erhalten."

"Dschinns" ist als Kaleidoskop einer Familie etwas überfrachtet, aber intensiv erzählt und fast immer ganz bei den Figuren. Ein wichtiger Roman über den Verlust von Wurzeln und die großen Schwierigkeiten, sich in Deutschland zu Hause zu fühlen, wenn viele dort von "Scheißtürken" reden. Zumal Aydemir nie einseitig auf dieses Dazwischen-Sein blickt. So lernt Emine, die Mutter, beispielsweise nie die deutsche Sprache. Sprachlosigkeit ist auf vielen Ebenen ein Problem, auch in der Familie. Unheilvoll steht das Schweigen im Raum. Wie ein Dschinn, ein Geist. Dieser bemerkenswerte Roman handelt von vielen.

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Dschinns

von Fatma Aydemir
Seitenzahl:
368 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Hanser
Bestellnummer:
978-3-446-26914-9
Preis:
24,00 Euro €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 18.03.2022 | 12:40 Uhr

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