Wie wird heute mit Astrid Lindgrens Büchern umgegangen?
Heute vor 20 Jahren ist Astrid Lindgren gestorben. Ihre Bücher haben Generationen begleitet, ihre Figuren sind unsterblich. Doch vor 13 Jahren begann eine heftige Debatte über Rassismus in ihren Büchern.
"Annika: Wohnst du hier denn ganz allein? Pippi: Aber nein, Herr Nilsson und das Pferd wohnen doch auch hier. - Ja, aber ich meine: Hast du keine Mutter, keinen Vater? - Nein, gar nicht. Meine Mutter ist schon lange tot. Mein Vater ist ein Südseekönig." Leseprobe
Es sind Sätze wie diese, die vor einigen Jahren für eine heftige Diskussion gesorgt haben: Denn der "Südseekönig" war in den alten Ausgaben von "Pippi Langstrumpf" das "Wort mit N.". Evangeline van Niekerk ist gebürtige Südafrikanerin und Person of Colour. Sie lebt in Hamburg und ist Astrid Lindgren-Fan. Dass das N-Wort nicht mehr in den neuen Ausgaben auftaucht, findet sie richtig: "Ich bin sehr begeistert, dass es geändert wurde!", schwärmt van Niekerk. "Ich bin in Deutschland aufgewachsen, gar nicht mit einem dunkelhäutigen Mindset, sondern mit einem weißen. Und mein erster Gedanke war: 'Hä, was soll denn das?' Und dann habe ich gedacht: 'total super'. Es ist natürlich unglaublich, zu sagen: Das ist ein "Negerkönig"! Und deswegen finde ich es gut, den Kindern die Möglichkeit zu geben, freier zu denken und sie mit so einer Beknacktheit gar nicht aufs falsche Pferd zu locken!" Astrid Lindgrens Bücher sind für sie voller Seele. Sie liest sie ihrer elfjährigen Tochter vor.
Astrid Lindgrens Bücher erst ab der fünften Klasse?
Christiane Kassama warnt dagegen: "Ich persönlich finde, Astrid Lindgren ist nicht mehr zeitgerecht. Wir leben im Jahr 2022. Wir haben eine Black-Lives-Matter-Bewegung. Wir leben in einer Diversität in Deutschland und ich finde, wir sollten einen weiteren Blick zum Thema Diversität, zum Thema Gender-orientiert haben!" Kassama leitet eine Rassismus-kritische Kita in Groß Flottbek, einem Stadtteil von Hamburg. Rassismus, sagt Kassama, sei mehr als einzelne Wörter, vermittele sich eher unterbewusst. Wenn etwa Pippis weißer Vater auf die Südseeinsel kommt und sofort von den Schwarzen zum König gemacht wird. Sie empfiehlt, Astrid Lindgren erst ab der fünften Klasse vorzulesen und wenn, dann kritisch, mehr wie ein Lehrbuch.
Carina Vollmer unterrichtet an einer Grundschule in Hamburg-Bahrenfeld: "Astrid Lindgren ist für mich sowohl als Mutter als auch als Lehrerin Thema", erzählt sie. "Das wird vor den Frühstückspausen gerne vorgelesen. Ich finde, dass das zu einem Bildungskanon dazugehört, den jedes Kind einmal gelesen und gehört haben sollte." Dass rassistische Wörter vom Oetinger Verlag entfernt wurden, begrüßt auch sie sehr. Sie hat die Hoffnung, "dass sie sich rausschleichen, dass dieser Wortschatz nicht mehr existent ist." Sollte ein Schüler oder eine Schülerin in einer alten Ausgabe über das N-Wort stolpern, sähe die Lehrerin aber Handlungsbedarf. Dann würde sie über Rassismus allgemein sprechen.
Mit Kindern offen über kritische Wörter reden
Wie soll man mit Büchern umgehen, deren Geschichten die meisten lieben, deren Worte aber zum Teil in die Jahre gekommen sind? Germanistin Inger Lison von der TU Braunschweig sieht drei Wege: "Einmal der Weg, dass die Wörter - das N-Wort zum Beispiel - getilgt werden. Dann gibt es eine andere Position, die sagt, die Wörter sollen erhalten bleiben, um die historische Dimension der Texte erhalten zu können. Und dann gibt es die dritte Position, dass die Wörter bestehen bleiben sollen, aber zusätzlich noch Kommentare eingegeben werden."
Die promovierte Lindgren-Expertin legt sich nicht fest. Sie ist aber überzeugt: Astrid Lindgrens Bücher sind gut gealtert. "Sie hat mit sehr einfachen Worten ganz große Dinge angesprochen, sogar dem Tod den Schrecken genommen!" Sie rät, mit Kindern offen über kritische Wörter zu reden: "Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt. Wir habe die Gender-sensible und Rassismus-kritische Blickweise auf die Literatur. Ich denke, das ist auch legitim."
"Ja, die Zeit vergeht, und man fängt an, alt zu werden. Im Herbst werde ich zehn Jahre alt, und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich", Leseprobe
glaubt Pippi. Ob sie recht hat? Evangeline van Niekerk: "Ich finde, in allen Geschichten merkt man die Liebe zum Menschen - natürlich noch stärker die Liebe zu Kindern. Aus den Kindern werden irgendwann Erwachsene. Sie möchte, dass es gut wird auf der Welt - auch mit allem Schwerem, das man mitbringt."
