Romane als Lebensretter in Krisenzeiten: Was vermag Fiktion?
Können Romane bieten, was in herausfordernden Zeiten gebraucht wird? Darum ging es am Donnerstag beim Herrenhäuser Gespräch von NDR Kultur und der Volkswagenstiftung "Der Roman als Lebensretter - Über die Rolle von Fiktion in Krisenzeiten".
Was vermag Fiktion in Krisenzeiten tatsächlich zu leisten und kann Literatur als Lebensretter wirken? Irina Dumitrescu, die in Rumänien aufgewachsen ist, hat sich mit dieser Frage am Beispiel von Intellektuellen beschäftigt, die zu Zeiten der Diktatur im Gefängnis saßen. Den Anstoß dazu gaben Lebensgeschichten von Inhaftierten, die sie als 20-Jährige bei der Arbeit in der kanadischen Botschaft in Bukarest hörte.
Kraft der Sprache half inhaftierten in Rumänien
Folter und Misshandlungen sollten die Insassen brechen, doch die Kraft der Sprache konnte dies verhindern, sagt die Professorin vom Institut für Anglistik, Amerikanistik und Keltologie der Universität Bonn: "Ich habe damals erfahren, wie solche Menschen einander Sprachen gelehrt haben. Wie sie sich mit Gedichten, mit Literatur, mit Opern - also natürlich nicht gesungene Opern, sondern die Erinnerung an Opern, wie sie das als Quelle der Resistenz gefunden haben, und auch als Ablenkung", sagt Irina Dumitrescu. Manche Menschen hätten später in diesen Bereichen gearbeitet, als sie wieder frei waren.
Gestiegene Nachfrage nach Albert Camus' "Die Pest"
Literatur kann unterhaltend wirken, ablenken von der Lage, in der das Individuum sich befindet. Aber sie kann auch helfen, eine schwierige Situation zu meistern. Etwa, wenn Protagonisten aus einem Buch in der gleichen Situation sind, wie die Leserschaft im realen Leben. Dafür ist die seit Beginn der Coronapandemie gestiegene Nachfrage nach Albert Camus Roman "Die Pest" ein Indiz.
Geschichten können aber auch ordnungsstiftend wirken, sagt Lars Koch, Professor für Medienwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur an der Technischen Universität Dresden. "Wir orientieren uns in der Welt, indem wir uns Geschichten erzählen: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Da komme ich her, hier bin ich, da will ich hin." Das Geschichtenerzählen sei eine basale Kulturtechnik, mit dem sich Menschen in der Welt orientierten, so Koch. "Das betrifft die Geschichten, die ich mir mit meinem Kollegen beim Bier erzähle, das betrifft aber besonders eben auch diese großen Narrative, die uns über Medien quasi mit einem kollektiven Bilder- und Erzählungsensemble bedienen und beliefern."
Wie beeinflussen Geschichten unser Handeln?
Wie Geschichten unser Handeln beeinflussen können, das hat Friedrich von Borries untersucht. Der Professor für Designtheorie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, ließ Führungskräfte aus Unternehmen mit Unterstützung von Schriftsteller*innen Geschichten schreiben, um so ihre Vorstellungskraft zu stärken.
Eine Eigenschaft, die auch gefragt ist, damit sich Unternehmen weiterentwickeln: "Das Ganze führte dazu, dass die Leute aus dem Management, die daran teilgenommen haben, plötzlich einen Rahmen hatten, wo sie anders über eine mögliche Zukunft nachdenken konnten", sagt Friedrich von Borries. Die Leute aus dem Vorstand hätten anders darüber reden können, weil sie über eine Geschichte redeten, als wenn sie das als Strategieplan für die Unternehmensentwicklung der nächsten fünf Jahre zu verhandeln hätten. "Insofern öffnet das Fiktive sowohl Kanäle in einem selbst - als auch im Rezipienten."
Der Roman ist kein Lebensretter im klassischen Sinne, doch die Fiktion kann helfen, Krisenzeiten zu überstehen. Das macht dieses Herrenhäuser Gespräch einmal mehr deutlich.
Das Gespräch in voller Länge wird am 9. Januar 2022 in der Sendereihe Sonntagsstudio ab 20 Uhr auf NDR Kultur ausgestrahlt.
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