"Graubunt": Bildband über Ostdeutschland in den 90er-Jahren
Jürgen Hohmuth hat mit "Graubunt" einen Bildband vorgelegt, der mit seinen Fotos und Texten die Zeit nach der Wende im Osten Deutschlands zugleich dokumentiert und kommentiert.
"Grau besitzt keine Buntheit, es ist eine unbunte Farbe." So steht es in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia. Der Fotograf Jürgen Hohmuth hat seinen gerade erschienenen Bildband trotzdem "Graubunt" genannt, denn er zeichnet darin eine Zeit nach, die beides war: grau und bunt und alles dazwischen.
Der Anfang der 90er-Jahre im Osten Deutschlands war eine Phase des "Nicht mehr" und des "Noch nicht". Wie schon bei seinem ersten Buch hat Hohmuth Autorinnen und Autoren gebeten, zu seinen Fotos Texte zu schreiben.
"Wer plündert wird erschossen!" Diese Warnung musste jemand 1992 auf ein Extraschild schreiben und schräg an die Tür des besetzten Hauses in Leipzig-Connewitz nageln. Denn ansonsten war kein Platz mehr auf der Fassade. Die Anarchie hatte ihr Revier markiert in blau und schwarz und rot. Überall Warnungen, überall Ausrufezeichen. Ein einziges Auto parkt dort - ein himmelblauer glänzender Trabant.
Der Unmut der Bürger wird überall deutlich
Was sofort auffällt auf den Fotos von Jürgen Hohmuth aus Leipzig und Berlin, Jena und Dessau: Die Mauern und Häuser waren in den 90er-Jahren im Osten die Litfaßsäulen des Unmuts und des Aufbegehrens, der Wut und der Skepsis. Ob auf grauem Rauputz oder an den Platten der DDR-Neubauten. Es wurde geklebt und gemalt, gefragt und angeklagt.
Hat sich ihr Hausbesitzer schon gemeldet?
Konsumterror!
Lasst uns lieber desertieren, als am Golf für Öl krepieren!
Lieber Bücher klau'n als Fernsehn schaun!
Lieber Freiheit als DDR Geld!
Leseprobe
Zeit des Umbruchs im Osten Deutschlands
Die Fotos fangen "die unruhige Balance des Umbruchs von 1990" ein, so beschreibt es Ingo Schulze. Der Fotograf Jürgen Hohmuth muss unermüdlich durch den Osten gefahren sein. Er dokumentiert die Raucherecken in den Industriebetrieben, wo die zurückhaltend nackten Frauen aus der DDR- Zeitschrift "Das Magazin" langsam überklebt wurden mit größeren grelleren Postern aus dem "Playboy", die angezogenere Frauen zeigen, aber in angestrengteren Posen.
Er fotografiert, wie neue Mauern errichtet wurden aus entsorgten Kühlschränken, doppelreihig aufgestapelt, bis zu fünf übereinander. Die Menschen auf diesen Fotos warten und sitzen, stiefeln durch FDJ-Symbole, die auf der Straße entsorgt wurden, oder lesen die Bildzeitung.
Der Lyriker Gisbert Amm hat Auszüge aus seinem Tagebuch aus dem Herbst 1992 neben ein Foto gestellt, das eine Straßensanierung zeigt. Die alten Steine wurden bereits entsorgt, ein einsamer Punk stapft durch den Sand.
Ich komme in meinen spiraligen Gedankengängen immer wieder auf denselben Punkt: Ich bin - obwohl ich nicht die alte DDR wiederbeleben will - kein Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Land ist mir fremder als der Mond. Leseprobe
Der Gemeinschaftsgedanke geht verloren
Die literarischen Miniaturen sind ein Schatz dieses Buchs. Da beobachtet einer, wie seine Mitmenschen ihren Blick verengen: Gerade ging es doch noch um die Gesellschaftsordnung, plötzlich nur noch um die Hausordnung.
Christoph Hein erinnert sich in seinem Text an eine Anekdote von Heiner Müller, die der in einem berühmten Münchner Café erlebt hatte. Dort übertrug ein Fernseher die Bilder der Ermächtigung aus dem Osten, die "Wir sind das Volk!"-Rufe. Die teetrinkende Münchner Aristokratin, die sich nicht interessierte für das Fernsehprogramm oder für die anderen Gäste, blickte dann doch zum Bildschirm auf und rief wenig ladylike: "Ja, ihr seid das Volk. Und das sollt ihr auch bleiben!"
Die 90er im Osten, das waren die Neonazis und die Coca-Cola-Trucks, die Hütchenspieler und die blauen Planen, die die Mietshäuser schnell einhüllten, um aus ihnen angestrichene Schönheiten mit Kunststofffenstern zu machen. All das hat Jürgen Hohmuth fotografiert: mal in schwarz-weiß, wenn die Vergangenheit noch zu riechen und zu spüren war; mal in Farbe, wenn die Werbung und die Wahlplakate bereits den Ton angaben.
Fotos und Texte zeigen unterschiedliche Perspektiven
Auch die Autoren liefern unterschiedliche Perspektiven: Da erzählt einer, der über Ungarn geflohen war, wie er 1990 wieder seine alte Wohnung in Ost-Berlin betritt. Ein anderer berichtet, wie er vom Gesellschaftswissenschaftler zum Pförtner seiner Hochschule wurde, innerhalb eines halben Jahres - "ideologiebelastet" war das Urteil, das ihn ins Erdgeschoss katapultierte. "Entwurzelt" ist das Gefühl, von dem er 30 Jahre später schreibt, nachdem er sich die Fotografien angeschaut hat.
Jürgen Hohmuth hat mit "Graubunt" ein Geschichtsbuch vorgelegt, das nicht nur den Fakten verpflichtet ist. Er dokumentiert, aber er kommentiert auch. Er sucht die Symbole für dieses Zwischenreich und findet: das ausgeschlachtete MZ-Motorrad ohne Räder, aufgebockt in einer Straße, in der schon die Golfs und Fiestas parken - und den hölzernen Standard-DDR-Schulstuhl, den jemand auf den Hügel am Kulkwitzer See in Leipzig gehievt hat. Man könnte von hier weit blicken, die Aussicht genießen, aber die Stuhlbeine sind verbogen, mit sicherem Stand kann hier keiner mehr rechnen.
Graustufen - Leben in der DDR in Fotografien und Texten
- Seitenzahl:
- 152 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- 21 x 24 cm, 80 Abbildungen, Hardcover - Mit Beiträgen von Sten Nadolny, Lutz Seiler, Ingo Schulze, Christoph Links, Kara Huber, Rainer Kirchmann, Christoph Hein, Markus Meckel, Kathrin Schmidt u.a.
- Verlag:
- Edition Braus
- Bestellnummer:
- 9783862282142
- Preis:
- 29,95 €
