Pascal Mercier: "Das Gewicht der Worte" (Buchcover) © Hanser

"Das Gewicht der Worte": Pascal Mercier philosophiert über Sprache

Stand: 22.01.2020 10:40 Uhr

Spätestens seit seinem Bestseller "Nachtzug nach Lissabon" ist Pascal Mercier als Autor philosophisch unterfütterter Romane bekannt. 1944 als Peter Bieri in Bern geboren hat er sich auch zunächst in der akademischen Welt als Philosoph einen Namen gemacht, bevor er - mit 51 Jahren eher spät - zum Schreiben kam.

von Anja Dalotta

Auch der Protagonist in seinem neuen Roman "Das Gewicht der Worte" hat zunächst einen anderen Lebensweg eingeschlagen, als ein schicksalhaftes Erlebnis in ihm den Wunsch nach einer Neuausrichtung weckt: Statt die Worte anderer zu übersetzen, will er nun eigene finden.

Stets hast Du anderen geholfen, in Deiner Sprache zu Wort zu kommen. Du hast ihnen die Stimme Deiner Sprache geliehen und hast ihnen in Deiner Sprache zu einer eigenen Stimme verholfen. Wie klingt Deine eigene Stimme in dieser Sprache? Wie klingst Du selbst? Leseprobe

Immer wieder muss Simon Leyland an diese Worte aus dem Abschiedsbrief seines Onkels denken, des kürzlich verstorbenen Orientalistik-Professors Warren Shawn. Um dessen Nachlass zu ordnen und sein Erbe anzutreten - ein herrschaftliches Haus in London-Hampstead -, ist Leyland in seine Heimat zurückgekehrt, nachdem er die letzten vierundzwanzig Jahre in Triest gelebt hat.

"Das Gewicht der Worte": Faszination für andere Sprachen

Während er das leere Haus erkundet, erinnert er sich an seine hier verbrachten Jugendjahre, besonders jenen Schlüsselmoment, der seinem Leben die entscheidende Richtung gab.

Eines Tages hing im Wohnzimmer eine große Karte des Mittelmeers. Er möchte die Sprachen aller Länder können, die ans Mittelmeer grenzten, hatte Leyland plötzlich gesagt. Es war ein spontaner Gedanke gewesen, der ihn selbst überraschte, ein Gedanke, wie ihm später schien, der alles zusammenfasste, was ihm wichtig war. Warren Shawn hatte gelacht, auf die Karte geblickt und ihn dann eine Weile angesehen. "Nicht unmöglich. Dir würde ich es zutrauen. Sofort beginnen. Maltesisch nicht vergessen!" Leseprobe

Es sollte nicht allein bei den Mittelmeersprachen bleiben: In seinem unstillbaren Hunger nach immer neuen Wörtern lernt Leyland - unter anderem - auch Russisch, Hebräisch und Albanisch. Er wird ein gefragter Übersetzer und arbeitet für verschiedene Verlage, bis seine Frau Livia einen eigenen erbt und das Paar nach Triest zieht.

Schicksalshafter Wendepunkt in Leylands Leben

Lange fühlt sich Leyland mit der Betreuung der Werke anderer Autoren ausgefüllt, bis ein furchtbares Erlebnis ihn völlig aus der Bahn wirft: Er erleidet einen Anfall, eine innere Starre, die ihm die Kontrolle über alle seine Sprachen nimmt.

Du hast das Gefühl zu ersticken. So, wie man über Atemnot sagen könnte, dass man im Körperlichen mit sich nicht mehr vorankommt, ist es nun das Gefühl, im Geistigen nicht mehr mit sich voranzukommen, denn die Sprache des Geistes ist dabei zu versiegen. Wenn es soweit ist, werde ich mir im Inneren keine Gedanken mehr vorsagen können, und ich werde auch in dem Sinne nicht mehr denken können, dass ich bereit wäre, einen klaren Satz zu sagen oder ihm auch nur zuzustimmen. Ich werde im Inneren leer sein, still und stumm. Leseprobe

Doch es kommt anders: Die voreilige Diagnose eines tödlichen Gehirntumors stellt sich als grausamer Irrtum heraus, an dem Leyland fast zerbricht. Denn in der scheinbaren Gewissheit seines nahen Todes hat er alle seine Angelegenheiten geregelt und steht nun vor dem Nichts.

Neubeginn als Schriftsteller

Erst nach und nach gelingt es ihm, die Kraft für einen radikalen Neuanfang zu sammeln. Die ermutigenden Worte seines Onkels im Sinn, beginnt er an dessen Schreibtisch in dem Londoner Stadthaus seine erste Geschichte zu schreiben - ein schwieriges Unterfangen, da er bislang nur die Stimme des Übersetzers kennt.

Wie kann ich die Worte, die ich benutzen musste, um Fremdes zu sagen, benutzen, um das zu sagen, was ich in eigener Sache sagen möchte? Was also bedeutet es, dass es eigene Worte sein können, wenn sie doch aus der Erfahrung mit Tausenden von fremden Worten entstehen? Die eigene Stimme, woran werde ich sie erkennen? Leseprobe

Pascal Merciers Gespür für sprachliche Feinheiten

Vorsichtig, behutsam lässt Pascal Mercier seinen Protagonisten sein literarisches Potential entdecken. Dabei beweist er sein eindrucksvolles Gespür für sprachliche Nuancen - etwa dann, wenn Leyland die Bedeutung verschiedener Ausdrücke abwägt und sich schrittweise an eine wirklich treffende Beschreibung herantastet.

Nicht weniger präzise ist die Erzählstimme des Autors, die mit viel Einfühlsamkeit die verschiedenen Phasen der Aufarbeitung begleitet, die Leyland und seine Familie nach der einschneidenden Diagnose erleben.

Beides macht "Das Gewicht der Worte" zu einem hochgradig reflektierten Roman, der nicht nur die Geschichte eines erwachenden Autors, sondern eines sich völlig neu erfindenden Menschen erzählt.

Lesung
Peter Bieri © picture alliance/KEYSTONE | MARCEL BIERI

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Das Gewicht der Worte

von Pascal Mercier
Seitenzahl:
576 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Hanser
Bestellnummer:
978-3-446-26569-1
Preis:
26,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 04.07.2023 | 16:00 Uhr

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Romane

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