Stand: 26.07.2020 12:00 Uhr

Emotionaler Bildband über Frauen und Frausein weltweit

von Stefanie Groth

Manche Projekte drängen sich in ihrer Selbstverständlichkeit auf - so jedenfalls war es beim Projekt "Woman" der ukrainischen Filmemacherin Anastasia Mikova und des französischen Regisseurs Yann Arthus-Bertrand.

Beide drehten 2012 bis 2014 für ihren Film "Human" und waren dabei überwältigt von der Redefreudigkeit vieler Frauen. Während diese vor einem Interview oft schüchtern oder misstrauisch gewesen seien, hätten sie sich dann im Interview vor der Kamera komplett geöffnet - als hätten sie lange darauf gewartet, sprechen zu dürfen. Vor allem aber, so die Filmemacher, hatten sie das große Bedürfnis, gehört zu werden.

"Woman": 2.000 Gespräche mit Frauen in 50 Ländern

Also fiel der Entschluss, einen Film zu machen, der allein den Frauen gewidmet ist. 2.000 Gespräche in 50 verschiedenen Ländern haben die Filmemacher aufgezeichnet - aber dann verpasste der Film aufgrund der Corona-Pandemie den geplanten Kinostarttermin. Im November soll der Start nachgeholt werden. Immerhin gibt es bereits einen Bildband zum Film - mit Porträtaufnahmen und Interviews mit den Frauen.

Für viele ist es ein Geschenk der Natur, eine Frau zu sein; für mich ist es ein Geschenk, das ich mir ganz allein gemacht habe. Die Transfrau Vladimir

Die erste Frau, die im Bildband "Woman" zu Wort kommt, heißt Vladimir. Als Jugendliche hieß Vladimir noch Wladimiro. Vladimir ist eine Transfrau. Die ehemalige Abgeordnete des italienischen Parlaments, Künstlerin und militante LGBT-Aktivistin, musste dafür kämpfen, eine Frau zu sein. "Was heißt das eigentlich genau, eine Frau zu sein? Für mich stecken ganz unterschiedliche Dinge hinter diesem Begriff. Da ist zunächst das Rosenwasser, das sich meine Mutter immer auf die Haut tupfte. Gespräche, nicht über Fußball, sondern über das Kleid jener Tante bei der letzten Hochzeitsfeier. Mir ist klar, dass sich das antifeministisch anhört. Aber eine Frau zu sein, bedeutet für mich auch, sich zu schminken, die eigene Weiblichkeit zur Schau zu stellen - bei vollem Respekt für alle, die das nicht tun." sagt Vlamidir. Ihre braungrünen Augen funkeln in die Kamera, ein freundlicher, offener, zugleich fordernder Blick. Ihre Lippen sind rot gemalt, der Lidschatten lila. Schön ist sie. "Was heißt schon schön sein? Alles, was zählt, ist doch, dass man sich als schön empfindet, finde ich jedenfalls."

Viele Antworten auf die Frage "Was heißt es, eine Frau zu sein?"

Das mag banal klingen, nach einer Plattitüde. Ist es aber nun mal ganz und gar nicht, wenn jede Gesellschaft, jede Generation noch dazu, ihr eigenes Ideal davon hat, was vermeintlich weiblich ist und mit diesen Erwartungshaltungen Mädchen und Frauen gegenübertritt. Was also heißt es, heutzutage eine Frau zu sein? Darauf hat das Buch "Woman" unzählige Antworten. Von Frauen aus allen Winkeln der Erde und allen Bevölkerungsschichten.

Natalia aus Russland - fotografiert für den Bildband "Woman" © Dimitri Vershinin / hopeproduction / Knesebeck Verlag Foto: Dimitri Vershinin
Natalia aus Russland - fotografiert für den Bildband "Woman".

Ertharin aus den USA sagt: "Während meines Jurastudiums sagte man mir, ich wäre zu feminin. Das war zu Beginn der 70er. Damals forderte man von uns, den Männern ähnlich zu sein." Natalia aus Russland meint: "Die Bestimmung des Mannes ist es, zu arbeiten und Geld mit nach Hause zu bringen. Und die Rolle von uns Frauen ist es, Kinder zu kriegen, sie großzuziehen, den Haushalt zu führen, und: Geld zu verdienen." Sarah aus Mexico sagt: "Ich erinnere mich gut daran, dass ich schon auf dem College begriffen hatte, dass der stellvertretende Schulleiter mich meinen Mitschülerinnen vorzog. Eines Tages erteilte mir ein Lehrer eine Verwarnung und schickte mich in sein Büro. Da ich mir meiner Macht über ihn bewusst war, erreichte ich, dass die Verwarnung meine Eltern nie erreichte. Indem ich ein wenig meinen Rock hochgezogen habe. Ja, so weit bin ich gegangen. Mit meinen 13 Jahren."

Frauenstimmen aus Afghanistan, Kongo bis Tibet

Zusammengetragen wurden all diese Stimmen von der ukrainischen Filmemacherin Anastasia Mikova und dem französischen Regisseur und Fotograf Yann Arthus-Bertrand. Weltweit haben die beiden Frauen getroffen, um mit ihnen über ihre Erfahrungen, ihren Alltag und ihre Träume zu sprechen. Vom Amazonas bis nach Afghanistan, Kongo bis Tibet. Es geht um den eigenen Körper, darum Mutter zu werden und darum ein Paar zu sein. Um Sexualität und Tabus, um Gewalt, um Emanzipation. Intime Einblicke von viel zu selten gehörten Stimmen, die hier durch einfühlsame Porträtaufnahmen der Frauen auch ein Gesicht bekommen.

  • Bouchra, Marokko: "Wenn ich etwas Schönes betrachten will, dann schaue ich in den Spiegel. Denn ja, ich bin stolz auf mich."
  • Iria-Marina, Mosambik: "Mit acht Jahren schon einen weiblichen Körper zu haben ist nicht einfach. Als kleines Mädchen die Pfiffe und "Hey Baby" Rufe zu hören hat mich traumatisiert. Bis heute."
  • Marion, Frankreich: "Nehmen wir mal an, du würdest im Wald aufwachsen, weit weg von der Gesellschaft. Kannst du dir dann vorstellen, dass du eines Morgens aufwachst und zu dir sagst: Ich hab echt Lust, mir die Lippen mit Farbe anzumalen? Aber natürlich nicht! Das ist ein Konstrukt."
  • Xiaochen, China: "Im Alter von 14 Jahren hat meine Mutter mich ins Krankenhaus gebracht, und ich habe meine erste Schönheitsoperation erhalten. Eine Fettabsaugung, um dünner zu werden. Später sind Botox-Spritzen dazu gekommen, damit ich fotogener werde."
  • Anne Sophia, Dänemark: "Ich habe mir meine Kratzer und Falten verdient! Früher standen sie für Erfahrungen und Weisheit. Heute ist das Gegenteil der Fall. Wir sollen unser Leben lang wie Teenager aussehen. Darauf habe ich keine Lust."

Hintergründe mit Essays und Grafiken

Essays, Grafiken und Statistiken liefern Hintergrundinformationen und bereichern den Bildband. Vor allem aber sind es die vielen verschiedenen weiblichen Stimmen, der Einblick in ihre Lebenswelt, in ihre Erfahrungen, ihre Hoffnungen ebenso wie in ihre Ängste, die einen berühren. Das Buch ist dabei lehrreich, ohne zu belehren. Es ist kurzweilig und doch bietet es viel Stoff, über den es sich nachzudenken lohnt, etwa: "Was ist für mich weiblich? Was erwarte ich von einer Frau - und warum eigentlich? Fühle ich mich wohl in meiner Haut und von wem mache ich das abhängig?"

Gedankenspiele, die einen weiter bringen. Egal ob Frau, Mann, Trans. Denn was einem dieses Buch lehrt: eine Gesellschaft ist nur so sehr mit sich im Reinen, wie es ihr gelingt sich freizumachen vom dogmatischen Umgang mit Geschlechtervorstellungen, sozialen Normen und überlieferten Vorstellungen.

Woman

von Yann Arthus-Bertrand und Anastasia Mikova (Hrsg.)
Seitenzahl:
224 Seiten
Genre:
Bildband
Zusatzinfo:
mit 300 farbigen Abbildungen, aus dem Französischen von Kristin Lohmann, Jutta Schiborr
Verlag:
Knesebeck
Veröffentlichungsdatum:
21.02.2020
Bestellnummer:
978-3-95728-311-5
Preis:
30,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 26.07.2020 | 16:20 Uhr

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Bildbände

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