Wo ist Familie Blach? Auf den Spuren einer jüdischen Familie
Als Friederike Fechner und ihr Mann in Stralsund das ehemalige Haus der jüdischen Kaufmannsfamilie Blach kauften, sind deren Nachkommen über die ganze Welt verstreut. Fechner geht auf Spurensuche und bringt die Familie erstmals wieder in Kontakt.
Als Friederike und Martin Fechner das verfallene Haus in der Stralsunder Altstadt, Heilgeiststraße 89, erwarben, wussten sie noch nicht, was auf sie zukommt. Sie hatten ein 300 Jahre altes Haus vor dem Verfall gerettet und restauriert und damit einen der letzten Schandflecke in der Weltkulturerbestadt beseitigt.
Von der Stadt Stralsund bekamen sie den Bauherrenpreis für die gelungenste Restaurierung. Doch an dem Preis hing noch etwas dran: Die Bitte, sich mit der Geschichte des Hauses zu befassen. Das tat Friederike Fechner - und sie konnte damit einfach nicht mehr aufhören.
Einem Sohn der Familie Blach gelang die Flucht
Die ersten Recherchen im Stadtarchiv: Das Haus gehörte von 1883 bis 1935 der jüdischen Familie Blach. Vier der sechs Kinder des Lederwarenhändlers Julius Blach wurden im KZ ermordet. Nur einem Sohn, dem Rechtsanwalt Friedrich Blach, gelang die Flucht nach Amerika. Als Friederike Fechner das bei der Verleihung des Bauherrenpreises erzählt, beschließt sie spontan: Ich werde die Nachfahren ausfindig machen.
Wie das geht, davon hatte sie keine Ahnung: Bach und Dvořák, das war das Terrain der Cellistin. Nicht Archive, Urkunden, Personendatenbanken und Deportationslisten durchzuforsten. Eine Sisyphos-Arbeit, wenn sich - durch Heirat, Scheidung und das Leben in einem anderen Land - Nachnamen geändert haben. Doch ein Gedanke treibt sie an: Was hat diese Familie durchgemacht? Lebt da noch einer irgendwo in der Welt? Wenn ja, dann will sie bereit sein, ihm etwas erzählen zu können über die Wurzeln seiner Familie.
Fechner füllt die Herkunftsgeschichte mit Leben
Mit Casey Blake und seiner Schwester Christina in New York hält Friederike Fechner 2016 das erste Ende des roten Fadens in der Hand. Die beiden sind Enkel von Friedrich Blach, der sich in den USA Blake nannte. Die beiden leben in dem Glauben, dass es keine weiteren Nachfahren gibt. Doch Friederike Fechner macht weitere Familienmitglieder in Holland und England ausfindig.
Über die Jahre füllt sich die Geschichte der jüdischen Familie Blach mit Namen und Schicksalen, mit Bildern, Erzählungen und Erinnerungen. Darunter die verzweifelten Briefe von Felix Blach, der als letzter das Stralsunder Geschäft führte und sein letzter Eintrag in die Geschäftschronik des Lederwarenhandels, den er auf Druck der Nazis schließen musste.
Auf Spurensuche in Amsterdam
Auch auf ein Telegramm, in dem eine Mutter erfährt, dass ihr Kind das KZ überlebt hat, stößt Fechner. Was verbirgt sich dahinter? Friederike Fechner erfährt es, als sie sich mit Gaby Glassman in Amsterdam trifft. Die Nachfahrin der Stralsunder Familie Blach arbeitet in London als Therapeutin für transgenerationale Traumata und kümmert sich besonders um die Kinder und Enkel von Holocaust-Überlebenden. Sie kann vor Aufregung ein paar Tage nicht schlafen, als sich Friedrike Fechner bei ihr gemeldet hatte. Anfang der 90er-Jahre - als sie zum ersten Mal Stralsund und das damals verfallene Haus der Familie besuchte - hatte sie Ablehnung erfahren und Gleichgültigkeit. Sollte das jetzt anders sein? Eine Deutsche interessiert sich für ihre Geschichte?
In Amsterdam folgen die Londonerin und die Stralsunderin den Spuren der Familie: Gaby Glassmans Mutter und deren erster Mann waren von Stralsund nach Amsterdam geflüchtet und überlebten den Krieg in Verstecken. Ihre Stralsunder Großeltern - es war gelungen, sie 1938 dorthin zu holen - wurden aus Holland deportiert und kamen im Konzentrationslager ums Leben. Ihr Bruder Peter wurde versteckt, verraten und überlebte das KZ.
In Amsterdam steht Gaby Glassman am symbolischen Grab ihrer Großeltern. Mit Friederike Fechner hat sie sich am neuen Holocaust-Mahnmal von Daniel Libeskind auf die Suche nach den dort eingravierten Namen gemacht. Und sie besuchen Pauline Pilaar, deren Eltern viele jüdische Kinder und Erwachsene retteten, indem sie ihnen Versteckadressen besorgten - darunter die Verstecke für Gabys Familie. Ohne den Mut von Paulines Eltern wäre Gaby nicht auf der Welt.
Initiative zur Erinnerung an jüdisches Leben in Stralsund
Die Recherche zur Familie Blach ist abgeschlossen. Fast 30 Nachfahren sind 2022 auf Einladung von Friederike Fechner nach Stralsund gekommen. Ein Grund aufzuhören ist das für die Musikerin nicht. Sie gründete die "Initiative zur Erinnerung an jüdisches Leben in Stralsund" und arbeitet mit anderen Ehrenamtlichen an einem digitalen Gedenkbuch, das alle jüdischen Bürger der Hansestadt verzeichnet. Nachfahren in aller Welt werden ermittelt, viele von ihnen schicken Dokumente, Fotos und Briefe für das digitale Gedenkbuch. So bekommen 300 Bürger dieser Stadt wieder ihren Namen zurück, ihr Gesicht, ihre Geschichte. Und das alles begann mit einem Hausverkauf in der Heilgeiststraße 89.
Das Erste zeigt die Reportage "Echtes Leben: Wo ist Familie Blach? am 2. November ab 23.20 Uhr. NDR Kultur sendet das Feature "Hauskauf mit Geschichte" über die ungewöhnliche Spurensuche von Friederike Fechner am 1. November ab 20 Uhr. Eine Folge des Podcasts vertikal - horizontal über die Familie Blach ist bereits abrufbar.