"Historisches Denken können wir von Kindern noch nicht erwarten"
Enid Blyton gilt als eine der erfolgreichsten Jugendbuchautorinnen. Auch die deutsche Kinderbuchautorin Kirsten Boie hat früher Blytons Bücher gelesen - sieht deren Werk heute aber auch kritisch.
Frau Boie, ich habe gelesen, dass Sie früher Enid Blyton verschlungen haben - ist das richtig?
Kirsten Boie: Ja, total!
Bei welcher Gelegenheit haben Sie das als Kind gelesen?
Boie: Es war zu der Zeit gar nicht so einfach, an die Bücher heranzukommen - ich spreche von den späten 50er-, frühen 60er-Jahren. Sie befanden sich nicht in öffentlichen Büchereien, vermutlich, weil man ihre mangelnde literarische Qualität beklagt hat: stereotyp gezeichnete Figuren und so weiter. Nicht aus den Gründen, die wir uns heute vorstellen könnten: Rassismus, Sexismus, sondern wirklich mangelnde literarische Qualität. Ich musste deshalb zusehen, dass ich anders an die Bücher kam, denn meine Eltern haben sie mir nicht gekauft. Ich hatte eine Freundin, die hatte einige, und da bin ich immer hingelaufen, ungefähr fünf Kilometer durch Hamburg hin und fünf zurück, um mir Bücher auszuleihen und zurückzugeben. Mit 14 war ich zum ersten Mal in England bei einer sehr netten Familie, die auch sehr lesebegeistert war, und da war der ganze Haushalt voll mit Enid Blyton.
Aber da haben Sie die Bücher auf Englisch gelesen?
Boie: Ja. Zu Anfang war mein Englisch noch nicht so gut, aber bei Enid Blyton hat mich das überhaupt nicht gestört. Am Ende der drei Wochen war mein Englisch sehr viel besser, und ich vermute, auch Enid Blyton hat dazu beigetragen. Ich weiß nicht, wie viele Bücher ich in der Zeit tatsächlich gelesen habe.
Ich kann mich auch - wenn auch ein paar Jahre später - erinnern, dass man sagte, das sei keine so richtig gute Literatur. Aber trotzdem lesen Kinder und Jugendliche das wahnsinnig gern. Warum war das bei Ihnen der Fall?
Boie: Die Bücher boten zum einen viel Spannung. Man muss an die damalige Zeit denken: Wir hatten damals noch nicht ansatzweise so viele gute Kinderbücher in Deutschland wie heutzutage. Da fielen die schon raus mit dem, was sie uns an Spannung und Unterhaltung boten. Es sind Freundschaftsgeschichten - Kinder, die halten wirklich zusammen. Es gibt immer Tiere, die eine Rolle spielen. Die Kinder sind klüger als die Erwachsenen. All diese Dinge, die man als Erwachsener als klischeehaft und völlig unrealistisch betrachtet, haben für Kinder oft einen ganz hohen Reiz. Das war bei mir auch so.
Was ich wirklich spannend finde: Das, was wir Blyton heute vorwerfen - und das können wir ihr durchaus vorwerfen - sind zum Beispiel ihre Mädchengestalten, die immer zimperlich sind und nichts anderes tun als putzen und sich ganz an die damals geltenden Normen für Mädchen halten. Oder dass die Verbrecher immer entweder sogenannte Ausländer sind oder zumindest schwarze Haare haben, schwarze Augen, mit denen sie rollen. Das empfinden wir als fremdenfeindlich und rassistisch, und das ist es auch. Ich habe davon nichts, aber auch gar nichts bemerkt und weiß aus vielen Gesprächen, die ich mit anderen leidenschaftlichen Blyton-Lesern und -Leserinnen geführt habe, dass es ihnen damals genauso gegangen ist.
Was glauben Sie, woran liegt das, dass man das als Kind nicht bemerkt?
Boie: Ich glaube, wir waren damals für solche Fragen noch überhaupt nicht sensibilisiert. Das ist heute anders. Ich vermute, wenn Kinder heute diese Bücher lesen, dann werden sie wahrscheinlich nach dem dritten Band fragen, warum die Verbrecher immer Ausländer sind. Oder sie werden sagen: "So wie diese Mädchen möchte ich aber ganz bestimmt nicht sein." Da hat sich bei uns in der Gesellschaft unglaublich viel verändert, was dann auch die Rezeption dieser Bücher verändert.
Das ist eine sehr umstrittene Frage, wie man damit heute umgehen soll. Aber können wir das nicht trotzdem Kindern zumuten, einzuordnen, dass das aus einer anderen Zeit ist und das dann zu verstehen?
Boie: Das finde ich eine ganz spannende Frage, und zwar nicht nur in Bezug auf Blyton. Ich glaube, historisches Denken können wir von Kindern noch nicht erwarten. Die nehmen das immer "at face value": Es ist, wie es ist. Vermutlich wird ein Kind, wenn es zehn Bücher liest, in denen die Mädchen immer brav und zimperlich sind und die Jungs immer stark, heldenhaft und tapfer, allmählich auch so ein Jungen- und ein Mädchenbild entwickeln, wenn nicht andere Texte und die Wirklichkeit dagegen steuern. Bei Erwachsenen können wir voraussetzen, dass sie das unterscheiden können - bei Kindern halte ich das für viel schwieriger. Ich würde die Frage nicht so eindeutig beantworten wollen. Wenn Eltern hinterher mit den Kindern darüber sprechen, dann sehe ich überhaupt kein Problem darin. Dann können die Eltern sagen: Guck mal, wie viel toller das heute ist: Mädchen können alles tun, was sie wollen, Jungs können alles tun, was sie wollen - das war doch damals schrecklich. Aber es sprechen ja nicht alle Eltern mit ihren Kindern über alle Bücher, die die Kinder gelesen haben. Insofern denke ich, dass das eine offene Frage ist. Spannend wäre es tatsächlich, mit Kindern, die diese Bücher gelesen haben, darüber zu sprechen, was sie wahrgenommen haben, ob sie das wahrgenommen haben. Das habe ich leider nicht getan.
Wie ist das in Ihren eigenen Büchern? Gibt es da Dinge aus frühen Werken, die Sie so nicht noch einmal schreiben würden?
Boie: Ja, natürlich. Ein einfaches Beispiel ist das N-Wort: Ich schreibe inzwischen seit fast 40 Jahren, und zu der Zeit, als ich anfing, war das noch überhaupt kein diskriminierender Begriff. Im Gegenteil. Die berühmten amerikanischen schwarzen Autoren wie James Baldwin oder Maya Angelou haben sich ja selbst als "Negros" bezeichnet. Damals ist es auch übersetzt worden und so findet es sich in den Erwachsenenbüchern heute noch. Wie gesagt, bei Erwachsenen können wir erwarten, dass sie historisch denken können - das können wir bei Kindern nicht. Die lesen so ein Buch, stoßen auf dieses Wort, und dann prägt es sich vielleicht ein.
Das ist ein komplexes Thema, weil die Frage auch ist, ob es vielleicht als Schimpfwort verwendet werden darf. Das darf es offenbar auch nicht, während "Dachpappe" als Schimpfwort verwendet werden darf. Das finde ich manchmal ein bisschen kompliziert. Aber diese Wörter haben wir in den letzten Jahren aus meinen Büchern rausgenommen und durch "schwarz" oder Ähnliches ersetzt. Das finde ich auch ganz richtig und nötig.
Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.