"In den Schuhen eines anderen"
Ein Paar vertauschte Wanderschuhe bringen Pastor Thomas Warnke aus Hamburg in die Bredouille. Sollte er wirklich in den Schuhen eines anderen weiter wandern?
Schon beim Blick ins Schuhregal wusste ich, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Ich griff die Schuhe von dort, wo ich glaubte, meine gestern hingestellt zu haben, und sah sofort: das sind nicht meine. Ich betrachte das fremde Paar Wanderschuhe.
Wir waren wandern. In den Bergen. Von Hütte zu Hütte. Ja, dieselbe Marke. Annähernd das gleiche Alter. Die Schnürbänder waren etwas dünner. Ich suchte das Regal noch einmal ab. Nichts. Kann es sein, dass jemand die Schuhe verwechselt hat? Dass jemand meine Schuhe genommen hat und nun damit unterwegs ist?
Niemanden vorverurteilen
Irgendwo zwischen Trotz und Nicht-Wahrhaben-Wollen probierte ich das andere Paar an. Ein bisschen zu klein, aber es würde gehen, zur Not. Ich begann innerlich zu fluchen. Und natürlich fiel mir prompt jener alte Spruch ein: Verurteile niemanden, bevor du nicht eine Meile in seinen Schuhen gelaufen bist. Sollte ich wirklich in den Schuhen eines anderen weiter wandern? Würde ich meine eigenen niemals mehr sehen?
Mittlerweile konnte ich wieder klarer denken. Ich ging zur Hüttenwirtin und beichtete mein Schlamassel. "Sowas hatten wir noch nie!" Gemeinsam durchkämmten wir die Gästeliste auf mögliche Kandidaten. Und beherzt rief sie einen nach dem anderen an: "Laufen Sie zufällig in Schuhen, die nicht ihnen gehören?" Was mögen die gedacht haben. Natürlich hatten alle ihre eigenen Schuhe an. Und ich ergab mich meinem Schicksal. Von nun an also in den Schuhen eines anderen.
Eine Lektion in Gelassenheit
Ein Handvoll Gäste war noch mit uns auf der Hütte. Es hatte sich rumgesprochen. Freundliche Worte begleiteten uns, als wir aufbrachen. Dann rief plötzlich jemand hinter uns: "Halt!" Ein freundlicher, älterer Herr schaute etwa zerknirscht in unsere Richtung. "Hier sind sie! Ich habe die Schuhe gestern Abend mit auf mein Zimmer genommen. Und als ich sie eben anziehen wollte, sah ich, es sind die falschen."
Wir lächelten uns an, und ich dankte meinem Gott mit einem lauten Halleluja für meine Stiefel und für diese Lektion in Gelassenheit, auch wenn ich nun doch nicht eine Meile in anderen Schuhen unterwegs gewesen bin.
