Mikkel Kaufmann (2.v.r.) vom Hamburger SV bejubelt seinen Treffer zum 3:1 bei Hansa Rostock © IMAGO / MIS

HSV: Walters junge Wilde sind bereit für den großen Sprung

Stand: 16.05.2022 13:34 Uhr

Der Hamburger SV hat vier Jahre nach dem Bundesliga-Abstieg die Chance, über die Relegationsspiele gegen Hertha BSC ins deutsche Fußball-Oberhaus zurückzukehren. Architekt des Erfolges ist Coach Tim Walter, der ein neues Arbeitsklima beim HSV geschaffen hat.

von Hanno Bode

Als sich die Spieler, Betreuer und Offiziellen des HSV am frühen Sonntagabend nach dem 3:2-Erfolg beim FC Hansa Rostock im Ostseestadion zum obligatorischen Mannschaftskreis aufstellten, drehte ihr Trainer inmitten des Menschenknäuels eine Runde. Sie dauerte länger als sonst. Denn der 46-Jährige nahm jeden seiner Kicker und jedes Mitglied des Staffs vom Busfahrer bis zum Zeugwart einzeln in den Arm. Die Szenerie zeugte von einer großen Geschlossenheit, die das Team in dieser Saison mit wenigen Ausnahmen stets auch auf dem Rasen gezeigt hatte. Anders als seinen Vorgängern ist es Walter gelungen, eine verschworene Gemeinschaft zu formen.

"Ich bin total stolz, wie die Jungs alle Widerstände überquert haben, wie sie immer wieder nach so vielen Tiefschlägen zurückgekommen sind." HSV-Trainer Tim Walter

Dank dieses Zusammenhalts, der statistisch gesehen besten Defensive der Zweiten Liga sowie 22 Saisontreffern von Robert Glatzel hat es die individuell wohl am schwächsten besetzte HSV-Mannschaft der vergangenen vier Jahre geschafft, durch den fünften Sieg in Serie in die Relegation einzuziehen. "Ich bin total stolz, wie die Jungs alle Widerstände überquert haben, wie sie immer wieder nach so vielen Tiefschlägen zurückgekommen sind", sagte Walter im NDR Interview.

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Von der vermeintlichen B- zur Ideallösung

Als der stets etwas heisere Mann aus Bruchsal im vergangenen Sommer zum neuen HSV-Trainer ernannt wurde, war das durchaus überraschend. Bei seiner vorigen Station, dem VfB Stuttgart, war er nach nur wenigen Monaten auf Rang drei liegend entlassen worden und anschließend eineinhalb Jahre ohne Anstellung gewesen. Zudem war es ein ziemlich offenes Geheimnis in Hamburg, wo ohnehin kaum ein Geheimnis geheim bleibt, dass der Verein lieber mit Steffen Baumgart in seine vierte Zweitliga-Saison gegangen wäre. Doch der Wunschkandidat sagte beim 1. FC Köln zu. Also fiel die Wahl auf Walter, der bei seiner Vorstellung anders als die meisten seiner Vorgänger darauf verzichtete, die üblichen abgedroschenen Phrasen zu dreschen.

Statt davon zu schwadronieren, dass der HSV ein dickes Brett sei, das zu bohren sei, oder ein großer Club, der ja eigentlich in die Bundesliga gehört, sagte der 46-Jährige beispielweise: "Ich bin ein Typ, der die Jungs abholen und mitnehmen möchte. Dabei will ich die Spieler fordern und fördern."

Walter setzte von Beginn an aufs Leistungsprinzip

Vom Aufstieg als Ziel sprach der Coach seinerzeit nicht. Er wolle immer jedes Spiel gewinnen, sagte er stattdessen. In Anbetracht der Abgänge von Stammspielern wie Torjäger Simon Terodde, Keeper Sven Ulreich oder Ex-Kapitän Aaron Hunt sowie finanziell bedingt wenig namhaften Zugängen hätte es auch gewagt erschienen, den Sprung in die Bundesliga als Anspruch zu formulieren. Zumal bald nach seinem Amtsantritt auch noch die einst als "Säulenspieler" (Sportvorstand Jonas Boldt) geholten Routiniers Toni Leistner und Klaus Gjasula das Weite suchten. Beide waren nicht bereit, den unter Walter neu entfachten Konkurrenzkampf anzunehmen. Namen? Sie waren und sind für den Coach Schall und Rauch.

Das zeigte sich bereits im ersten Saisonspiel beim FC Schalke 04 (3:1), in dem auf einmal ein gewisser Maximilian Rohr wie Kai aus der Kiste als "Joker" auf den Gelsenkirchener Rasen kam. Der 26-Jährige hatte zuvor nur in der U23 gekickt, Walter aber mit seinen Trainingsleistungen überzeugt.

HSV stellte jüngstes Team der Zweiten Liga

Rohr blieb nicht die einzige personelle Überraschung, die der Trainer aus dem Hut zauberte. In Faride Alidou und Anssi Suhonen verhalf er zwei Eigengewächsen zu ihren Profidebüts. Insbesondere Letzterer war durch seine enorme Laufbereitschaft und seine leicht anarchische Spielweise in den vergangenen Wochen ein großer Faktor für den HSV. Bitter für ihn und das Team, dass er sich vor dem Hansa-Duell im Training einen Wadenbeinbruch zuzog und auch für die Relegation ausfällt. Aus den Augen, aus dem Sinn? Nicht bei Walter. "Heute hat die Mannschaft auch ein bisschen für den Kleinen gewonnen", waren dessen Gedanken nach der Rostock-Partie beim 21-jährigen Finnen.

"Wir spielen ja nicht gegen Felix, sondern gegen Hertha." Tim Walter

Der nur 1,70 Meter große Mittelfeldmann ist einer der großen Hamburger Hoffnungsträger für die Zukunft. In den Vorjahren, als primär auf teures von externen Clubs geholtes Personal gesetzt wurde, wäre er vielleicht bei der U21 versauert. Nun heißt es "Jugend forscht" an der Sylvesterallee: Der HSV stellte in dieser Saison das jüngste Team der Liga. Leistungsschwankungen kamen daher nicht überraschend. Dass sich Walters junge Wilde aus dem zwischenzeitlichen Tief wieder befreiten und einen Sieben-Punkte-Rückstand auf Rang drei in den vergangenen fünf Partien wettmachten, war beeindruckend. Und die Aufholjagd zeugte von einer Mentalität der Mannschaft, die dem HSV in den Vorjahren stets im Saisonfinale gefehlt hatte.

Harnik sieht große Chancen für Hamburger Aufstieg

"Der Kader hat qualitativ nicht so viel hergegeben wie die letzten Jahre. Und die Mannschaft war so jung wie nie zuvor. Ich glaube, dass es dementsprechend sehr hoch zu bewerten ist, dass sie diesen dritten Platz erreicht haben", sagte Ex-HSV-Profi Martin Harnik am Sonntagabend im NDR Sportclub. Der frühere österreichische Nationalpieler hatte vor zwei Jahren mit den Hamburgern den Aufstieg auf den letzten Metern verspielt. Der aktuellen Mannschaft traut der 34-Jährige zu, die Rückkehr in die Beletage zu realisieren. "Wenn der HSV so auftritt wie in den letzten Spielen, mit dieser Überzeugung, Leidenschaft und mentalen Stärke, dann haben sie wirklich große Chancen", erklärte Harnik.

"Wir spielen nicht gegen Felix, sondern gegen Hertha"

Worte, die Walter sicher gerne gehört hat. Und eine Einschätzung, die der Coach natürlich teilt. "Das wird ein spannendes Duell, in dem wir die Oberhand behalten wollen", sagte er mit Blick auf die Relegationsspiele am Donnerstag in Berlin bei der Hertha und am Montag zu Hause gegen den selbsternannten "Big City Club" (jeweils 20.30 Uhr, im Livecenter bei NDR.de). Dass die "Alte Dame" von einem alten HSVer trainiert wird, der Felix Magath heißt und den Club 1983 zum Sieg im Europapokal der Landesmeister schoss, ist eine schöne Geschichte, für Walter aber irrelevant. "Wir spielen ja nicht gegen Felix, sondern gegen Hertha", erklärte der 46-Jährige.

Sollte der passionierte Golfer Tim Walter mit seiner Rasselbande am Ende den leidenschaftlichen Schachspieler Felix Magath und dessen favorisierte Berliner bezwungen haben, ist ihm eines aber sicher: Er wird wie der frühere Europapokal-Held einen Platz in den Geschichtsbüchtern des HSV finden.

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Sportclub | 15.05.2022 | 22:45 Uhr

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