Wie Mittelmeer-Einsätze einen Kieler Seenotretter in eine Krise führten

Stand: 31.10.2022 06:00 Uhr

Corvin Schreitmüller war mehrmals als Seenotretter im Mittelmeer im Einsatz - und hatte ein sogenanntes "Mission Hangover". Der Kontrast zwischen Einsatz und Alltag überforderte ihn - zunächst.

von Elin Halvorsen

September 2020: Auf dem Deck des Rettungsschiffes "Alan Kurdi" ist kein Millimeter mehr Platz. Die Crew hat 133 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet, darunter 62 Minderjährige, viele Kinder und auch Säuglinge. Mit dabei ist Rettungssanitäter und Feuerwehrmann Corvin Schreitmüller aus Kiel. "Die Gäste lagen da dann wirklich eng an eng", erinnert er sich. Vorsichtig bewegt er sich über das Deck, muss aufpassen, nicht auf Hände, Köpfe oder Füße zu treten. So erzählt er es heute. Die Schiffscrew versucht ein Dach über das Deck zu bauen, weil immer wieder Wellen über das Hauptdeck schwappen.

Drei Seenotrettungshelfer sind in einem Retterschiff im Einsatz © sea-eye.org
Schreitmüller saß bei den Einsätze vorne im Schlauchboot.

Es ist sein zweiter Einsatz in der Seenotrettung bei der Organisation Sea-Eye. Er hilft an Bord bei der Logistik, bei Rettungseinsätzen bei der medizinischen Ersteinschätzung, der sogenannten Triage. Dabei sitzt er ganz vorne auf dem Schlauchboot, nimmt Kontakt auf zu den Menschen in ihren oft viel zu kleinen und überfüllten Booten. Dann ist man schon mal einige Kilometer entfernt vom Schiff. "Dann ist drumherum einfach nichts". Die Crew erlebt Einschüchterungsversuche der libyschen Küstenwache, sieht wie Geflüchtete zurückgedrängt werden, hört über Funk mit, wo noch mehr Menschen in Seenot sind, denen sie nicht helfen können. Das hinterlässt Spuren.

Irgendwann geht nach der Rückkehr gar nichts mehr

Als Corvin Schreitmüller zurück nach Deutschland kommt, fühlt er sich hier deplatziert. Er fliegt zurück über Valencia, steht mit seinem Gepäck und seinen Erlebnissen zwischen Pauschalreisenden, die auf dem Weg in den Urlaub sind. "Man war am Ende nur vier Wochen weg, aber es fühlt sich an wie ein halbes Jahr." Nach und nach beginnt der Alltag wieder. Viele Probleme hier erscheinen ihm nichtig: Welchen Pullover trage ich, welches Handy habe ich? Er diskutiert viel mit Freunden, Familie, Kollegen und Kolleginnen.

Einige Wochen nach der Ankunft stellt er alles infrage. "Da war irgendwann der Punkt gekommen, wo ich mich gefragt habe, was soll das jetzt hier", sagt er. Früher war er immer dabei, wenn seine Freunde ausgingen, jetzt zieht er sich zurück. "Tja, und dann ging gar nichts mehr", sagt er.

Notfall-Seelsorger bereitet Crews vor

Ein Schiff von sea-eye vor der Küste auf dem Wasser. © picture alliance / ANSA Foto: GIAN MARIO SIAS
Auf der "Alan Kurdi" war Schreitmüller im Einsatz.

Um solche Belastungen auszuhalten, wird jede Crew vor dem Einsatz vorbereitet. Im Hafen von Palermo erwartet den damals erst 24-Jährigen vor seinem ersten Einsatz eine Woche Training: Wie verhalte ich mich auf dem Schiff, wie mache ich einen Knoten, wo finde ich Rettungsmittel? Vieles davon weiß Corvin Schreitmüller bereits, er segelt seit 15 Jahren und kennt viele seelsorgerische Hilfen aus seinem Beruf. Denn auch Einsatzkräfte der Feuerwehr, Rettungsdienst oder Polizei sind belastenden Situationen ausgesetzt. Aber diese Einsätze seien anders, sagt Notfall-Seelsorger Thomas Barkowski von der Bundesvereinigung Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen. Der Verein begleitet auch die Sea-Eye-Crews. "Es können Situationen eintreten, die wirklich traumatisierend sind: dass Menschen ertrinken vor den Augen der Crewmitglieder, dass Menschen nicht gerettet werden können, der Kontakt mit toten Menschen", sagt Pastor Barkowski.

Das Training soll vermeiden, dass die Crew nach ihrer Rückkehr in einen sogenannten "Mission Hangover" fällt, der ähnlich einer Posttraumatische Belastungsstörung sein kann oder sich auch eine nur kurze, vorübergehende Phase von empfundener Sinnlosigkeit zeigt. Als Hilfe bekommt die Crew deswegen Techniken wie progressive Muskelentspannung oder autogenes Training an die Hand. Wichtig sei aber auch sonst jede Art von Bewegung, das baue Stresshormone im Körper ab, und zwar auch später wieder an Land, rät Barkowski. Außerdem sollten die Seenotretterinnen und Seenotretter immer wieder Gespräche führen, sich möglichst wenig in sich selbst vergraben, sagt der Notfall-Seelsorger.

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Corvin Schreitmüller erzählt von seinen Einsätzen auf einem Rettungsschiff - und was diese mit ihm gemacht haben. 2 Min

Man dürfe auch nicht vergessen, dass dazu noch die wenige Privatsphäre auf dem Schiff komme, ungewohnte Einsatzzeiten, eventuell stundenlang keinen Schlaf, das lange Fahren auf dem Meer, führt Barkowski aus. Genauso wichtig wie das Training vor dem Einsatz sei auch die Nachsorge. Nach jeder Mission gibt es deshalb das Angebot, die ganze Reise noch mal durchzusprechen. Das sei für viele wichtig, um einen Abschluss zu finden.

Trotz der Belastungen: Helfer würde wieder fahren

Corvin Schreitmüller kann mit der Belastung umgehen, erholt sich mit der Zeit - er hat eine gute Resilienz. Die Phase der Sinnfragen legt sich bei ihm nach ein paar Wochen wieder. Geholfen habe vor allem das gute soziale Netzwerk, Freunde und auch der Austausch mit der Seenotrettungscrew vom Einsatz, sagt er. Gedanklich sei er aber heute noch immer bei Freunden und allen Einsatzkräfte auf Seenotretterungsmission und hofft, dass alles gut geht. Schreitmüller würde auch wieder rausfahren, trotz der extremen Belastungen auf See. Bis es soweit ist, engagiert er sich in der Lokalgruppe in Kiel, agiert bei Mission im Hintergrund von Land aus.

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