Das Bild zeigt eine Spielecke mit Kinderspielzeug. © NDR

Kinder aus IS-Gebieten: Schwieriger Neustart in Deutschland

Stand: 10.03.2022 06:51 Uhr

Wenn ehemalige IS-Anhängerinnen nach Deutschland zurückkehren, haben deren Kinder oft mit psychischen Problemen zu kämpfen. Eine Großmutter, die zwei Enkelkinder betreut, gewährt seltene Einblicke.

von Eric Beres, SWR

Der Blick ins Kinderzimmer ist zunächst ein ganz gewöhnlicher: Großmutter Manuela Schulz spielt mit ihren beiden Enkelkindern Yasha und Jamal. Während sich Yasha mit einer Sprechpuppe beschäftigt, sitzt Jamal mit der Oma vor einer Magnettafel mit Buchstaben. Mit etwas Hilfe bildet der Sechsjährige das Wort "Sonne". Dann sagt er: "Und was jetzt? Mir ist langweilig". Erst vor fünf Monaten ist er nach Deutschland gekommen. Wenn alles gut geht, kommt er nach den Sommerferien in die Schule.

Kinder sind aus Nordsyrien geholt worden

Diese privaten Einblicke gewährt die Großmutter nur unter der Bedingung, dass ihr echter Name und auch die Namen der Kinder nicht genannt werden. Denn nach allem, was den Kindern widerfahren ist, will sie ihnen einen möglichst ruhigen Start in Deutschland ermöglichen. Jamal und Yasha sind Kinder einer ehemaligen IS-Anhängerin. Im Oktober sind sie im Rahmen einer humanitären Rückholaktion des Auswärtigen Amts aus einem Camp der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien zurückgeholt worden - zusammen mit 21 weiteren Kindern.

Mutter reiste 2014 zum IS nach Syrien

Yashas und Jamals Mutter wurde nach der Ankunft am Flughafen Frankfurt am Main sofort festgenommen und sitzt nun in Untersuchungshaft. Ende 2014 war sie zur Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gereist, heiratete dort namhafte IS-Größen und war bis Anfang 2019 im selbst ernannten Kalifat der Terrormiliz. Vom IS will sie sich inzwischen distanziert haben. Die Bundesanwaltschaft wirft ihr die Mitgliedschaft in einer ausländischen Terrorvereinigung vor. Vor dem Oberlandesgericht Celle wird ihr nun der Prozess gemacht.

Kinder sollen Zukunft aufbauen können

Nun kümmert sich die Großmutter um Yasha und Jamal, mit Unterstützung des Jugendamtes. "Ich versuche, mein Bestes zu geben, dass die Kinder ihren Platz finden, wo sie auch ihre Zukunft aufbauen können, wo sie auch Halt haben und nicht mehr in irgendwas reingezogen werden", sagt sie. Der dreijährige Yasha fühle sich sehr wohl, beobachtet Manuela Schultz. Vergessen sind offenbar die schweren Verbrennungen, die er sich bei einem Brand in einem Zelt in einem der kurdischen Lager zugezogen hatte.

Entwicklungsverzögerungen und Traumata

Sorgen macht sich die Großmutter hingegen um Jamal, der im IS-Gebiet geboren wurde. Er sei häufig aggressiv, immer wieder machten sich seine Erlebnisse bemerkbar. "Es hat sich dann eigentlich nach ein paar Wochen verändert, dass so Auffälligkeiten waren - wie zum Beispiel einmal auf dem Trödelmarkt. Da kam ein Hubschrauber plötzlich und dann hat er Panik bekommen und wollte ins Auto. Auf jeden Fall ist er schwer traumatisiert", meint Manuela Schulz. Zudem fürchte er sich vor Monstern und habe von Blut auf dem Boden gesprochen, das er im Fernsehen gesehen habe. Womöglich musste er sich beim IS Propagandavideos anschauen.

Mangelhafte Hygiene in den Camps

Claudia Dantschke hält das für möglich. Die Islamismus-Expertin leitet in Berlin den Verein "Grüner Vogel", der zusammen mit einem Netzwerk von Psychologinnen und Psychologen nach eigenen Angaben fast alle ehemaligen IS-Frauen, deren Kinder und Angehörige betreut. Manche Kinder hätten beim IS Indoktrination und fanatische Väter erlebt. In den Camps der Kurden mangelnde Hygiene und schlechte Unterkünfte. Viele Kinder hätten Entwicklungsverzögerungen, dennoch sei ein Fall wie der von Jamal eher die Ausnahme. "Die wenigsten der Kinder brauchen eine intensive längere Therapie, aber bestimmte Gespräche, eine leichte Zusammenarbeit mit Kinderpsychologen ist eigentlich fast in jedem Fall notwendig", sagt Dantschke.

Probleme mit Ausweispapieren

Anfang März soll Jamal nun eine Therapie beginnen, berichtet seine Großmutter. Zu allem Überfluss muss sie sich noch mit der deutschen Bürokratie herumschlagen. Die Kinder haben bei ihrer Ausreise aus Nordsyrien Ausweispapiere bekommen, die nur wenige Tage gültig waren. Nun verlange das Standesamt, dass sie sich um Geburtsurkunden für die Kinder bemüht, berichtet Manuela Schulz: "Man sagt uns: 'Gehen Sie nach Syrien, holen Sie sich die Dokumente dort nachträglich!' Wo man weiß, da kriegt man kein einziges Dokument."

Standesämter könnten DNA-Tests machen

Laut Claudia Dantschke haben auch andere Rückkehrer-Familien diese Erfahrungen gemacht. Die Behörden reagierten sehr unterschiedlich. "Es hängt wirklich vom Standesamt ab, mit wem man da zu tun hat, wie kooperativ, wie einsichtig die Person ist", berichtet sie. Auf SWR-Anfrage bestätigt das Auswärtige Amt, dass es wegen fehlender Erfassung biometrischer Daten keine längerfristig gültigen Ausweisdokumente ausstellen könne. Tatsächlich könnten Standesämter zur Feststellung der Abstammung nun DNA-Tests verlangen. Das Auswärtige Amt selbst habe keine Möglichkeit, diese "vor den Rückholungen […] bei den betroffenen Personen durchzuführen.“

Auswärtiges Amt: Weitere Rückholaktionen geplant

Bisher habe man in vier Rückholaktionen insgesamt 42 Kinder und zwölf Mütter aus Lagern in Nordost-Syrien zurückgeholt. Man bemühe sich "mit Hochdruck" um weitere Ausreisen. Das hält Claudia Dantschke auch für dringend nötig. Sie geht davon aus, dass noch etwa 45 Kinder und 18 Frauen in nordsyrischen Lagern festsitzen: "Jeder Monat, jeder Tag, den die Kinder dort verbringen - und wir haben Kinder, die sind seit vier Jahren dort - wird die Arbeit dann hier in Deutschland erschweren. Das heißt, die Kinder kommen mit immer mehr Krankheiten zurück. Die Mütter sind auch zum Teil schwer krank. Das heißt, die ganze Frage der Reintegration und Resozialisierung wird immer schwieriger."

Vater in Syrien gestorben

Den sechsjährigen Jamal werden die Hinterlassenschaften des IS wohl noch sehr lange begleiten, glaubt seine Großmutter Manuela Schulz. So sei Jamals leiblicher Vater in Syrien gestorben: "Wir wissen nicht, wie die Kinder ihre Traumata später noch mal ausleben oder ob da noch was zurückkommt. Oder wenn der Sohn fragt: Wo ist mein Vater? Warum ist mein Vater bombardiert worden? Warum ist er dort gestorben? Es werden noch viele Dinge auf die Kinder zukommen, die irgendwann wissen wollen, wo ihre Väter sind."

Weitere Informationen
Celle: Die Angeklagte steht kurz vor Prozessbeginn in einen Saal vom Oberlandesgericht Celle und spricht mit ihrem Verteidiger Johannes Pausch (l). Die Frau soll 2014 gemeinsam mit einer 16-Jährigen nach Syrien ausgereist sein und sich dort der terroristischen Vereinigung «Islamischer Staat» (IS) angeschlossen haben. © dpa-Bildfunk Foto: Moritz Frankenberg

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