(9) Coronavirus-Update: Ältere Menschen schützen

Das Virus verbreitet sich in Deutschland schneller als gedacht. Nun gilt es, die Risikogruppen zu schützen, wie Professor Christian Drosten fordert. Auch wenn das Umdenken und Verzicht bedeutet.

Veranstaltungen mit mehr als 1000 Menschen absagen, das ist eine Idee von Gesundheitsminister Spahn, jetzt also eventuell auch in Deutschland. Und bereits beschlossen, gestern Abend im Koalitionsausschuss: ein milliardenschweres Investitionspaket, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Epidemie abzufedern. Das sind die Meldungen vom Wochenende.

Über diese und andere Themen reden wir auch heute wieder mit Christian Drosten, dem Leiter der Virologie an der Berliner Charité.

Der Virologe Prof. Christian Drosten © picture alliance/Christophe Gateau/dpa Foto: Christophe Gateau

(9) Wir müssen die älteren Menschen schützen

Sendung: Das Coronavirus-Update von NDR Info | 09.03.2020 | 12:54 Uhr | von Anja Martini
30 Min

Das Virus verbreitet sich in Deutschland schneller als gedacht. Nun gilt es, die Risikogruppen zu schützen - auch wenn das Umdenken und Verzicht bedeutet.

Die zentralen Fragen der Folge im Überblick

In Italien steigen die Infektionen rasant an und auch die Todesfälle. Wie ist Ihre Einschätzung der Lage dort?

Was genau beunruhigt Sie an der Situation in Italien?

Wie sieht es in Deutschland aus mit unseren Krankenhäusern? Wie sind die vorbereitet auf eine mögliche Erkrankungswelle?

Krankenhäuser haben ja schon angefangen, planbare OPs ein bisschen zu verschieben, Betten freizuhalten. Ist das der richtige Weg?

Es gibt viele Meldungen, dass es in Krankenhäusern an Desinfektionsmittel fehlt, an Handschuhen, an Masken und auch schon fast an Personal. Wie können wir das schaffen?

Veranstaltungen über 1000 Personen sollen laut Gesundheitsminister Spahn ausfallen. Ist das der richtige Weg?

In Deutschland ist diese Entscheidung, Veranstaltungen abzusagen, Ländersache. Es gibt viele Stimmen, die sagen: Nein, das muss jetzt einfach einmal geregelt werden. Wie sehen Sie das?

Deutschland schwankt stellenweise zwischen Hysterie und Gelassenheit? Was ist Ihre Beobachtung? Und was ist falsch, was ist richtig?

 

Podcast: Coronavirus-Update
Der Virologe Prof. Christian Drosten und die Virologin Prof. Sandra Ciesek (Montage) © picture alliance/dpa, Universitätsklinikum Frankfurt Foto: Christophe Gateau,

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Anja Martini: Herr Drosten, wie war Ihr Wochenende? Gab es viele Anrufe? Waren Sie im Labor oder hatten Sie ein bisschen freie Zeit für sich?

Christian Drosten: Ich war an diesem Wochenende nicht im Labor. Meine extrem guten Mitarbeiter waren natürlich wieder das gesamte Wochenende im Labor, zum Teil bis spät nachts. Bei mir klingelt eher das Telefon, und es ist Einiges zu organisieren.

Anja Martini: Das heißt, Ihre Mitarbeiter haben sich mit den aktuellen Fällen in Deutschland beschäftigt?

Christian Drosten: Ja, wir sind Konsiliar-Labor für Coronaviren. Gleichzeitig sind wir hier in Berlin regional mithelfend tätig und haben deswegen natürlich das gesamte Wochenende durchgearbeitet.

Anja Martini: Wir müssen aus aktuellem Anlass nach Italien schauen: Die Infektionen steigen da rasant an, und leider auch die Todesfälle. Wir haben letzte Woche schon darüber gesprochen, und da sagten Sie, in Italien habe man eine Unterschätzung der Gesamtwerte gehabt. Wie sieht Ihre jetzige Einschätzung der Lage dort aus?

Christian Drosten: Ja, diese Einschätzung gilt immer noch. Wir haben sicherlich in Italien eine Situation, die sehr spät bemerkt wurde. Es gibt Projektionen, die schätzen, dass dieses Virus wahrscheinlich schon seit Mitte Januar in Italien im Umlauf war. Es haben sich dort aber nicht nur Todesfälle eingestellt, die man nicht sofort bemerkt hat, sondern es war sicher auch so, dass es eine ganze Reihe von Todesfällen gegeben haben muss, die diesem Virus zuzuschreiben sind, die man anderen Dingen zugeschrieben hat – beispielsweise der Grippe oder anderen Infektionserkrankungen. Aber wir haben auch schon das Altersprofil dieser Viruserkrankung besprochen. Das ist ähnlich wie das Altersprofil derjenigen, die sowieso sterben in der Normalbevölkerung. Darum ist das wahrscheinlich eine Zeitlang nicht aufgefallen und konnte sich aufbauen.

Italien im Vergleich zu Südkorea

Jetzt steht eine relativ kleine Zahl von erkannten Fällen einer relativ großen Zahl von Verstorbenen gegenüber. Das ist natürlich von der Wahrnehmung her eine sehr ernste Situation. Dennoch ist so eine Viruserkrankung ein natürliches Phänomen, das von seinem Kerngeschehen erst mal überall gleich aussieht. Wenn wir unterschiedliche Erscheinungsformen haben, nehmen wir Italien versus Korea oder solche Dinge, die man zahlenmäßig vielleicht gegeneinanderhalten kann, dann ist der Grund in der Regel nicht in dem Virus zu sehen. Sondern der Grund ist darin zu sehen, was wir darüber wissen. Das sind statistische Unterschiedlichkeiten und systemische Unterschiedlichkeiten.

Wenn wir nach Korea schauen: Das ist auch ein Ausbruch, der schon so lange läuft, da müssten die Verstorbenen jetzt so langsam auch in Erscheinung treten. Wir sind trotzdem noch unter einem Prozent, irgendwo im Bereich von 0,6 bis 0,7 Prozent in Südkorea. Dafür gibt es auch eine plausible Erklärung: Südkorea testet in sehr großer Anzahl, hat fast 200.000 Labortests gemacht. Wir haben dort ein Ausbruchsgeschehen, das durch Labortests regional auch erreichbar ist. So haben wir hier eine ganz unterschiedliche Situation in der Statistik, wenn wir das mit Italien vergleichen.

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Der Virologe Prof. Christian Drosten © picture alliance/Christophe Gateau/dpa Foto: Christophe Gateau

(9) Wir müssen die älteren Menschen schützen

Themen: Vergleich Italien-Korea. Was muss man jetzt tun? Durchinfizierung bis Herbst erwartet. Höhepunkt Juni bis August. Risikogruppen. Veranstaltungen prüfen Download (100 KB)

Anja Martini: Was genau beunruhigt Sie an der Situation in Italien?

Christian Drosten: Die Situation dort ist nicht deshalb beunruhigend, weil Zahlen aufgeschrieben werden, sondern weil dahinter Patientenschicksale stehen, weil dahinter Situationen in Krankenhäusern stehen. Wir wissen schon aus Medienberichten und aus anderen Berichten, dass dort so langsam die Kapazität an die Grenze kommt, gerade in der Intensivmedizin. Das ist dann eine schwierige Situation in der Klinik.

Anja Martini: Das ist auch eine der vielen Fragen, die uns erreichen: Wie sieht es in Deutschland aus mit unseren Krankenhäusern? Wie sind die vorbereitet auf eine mögliche Erkrankungswelle?

Christian Drosten: Ich muss da vorwegschicken: Ich bin Mediziner, ich bin aber ein Mediziner, der in einem Fach der sogenannten mittelbaren Krankenversorgung arbeitet. Das heißt, ich habe einen ständigen Kontakt in die Klinik, aber ich selber bin nicht am Krankenbett. Ich betreibe ein diagnostisches Labor, und unsere medizinischen Leistungen sind Beratungs- und Rückfrageleistungen an klinisch tätige Kollegen. Aber generell ist es natürlich so, dass ich mich stark mit diesen Dingen beschäftige und auch viel darüber lese. Und da muss man sagen, was man da auffasst, was man lesen kann, ist: Wir haben eben doch einen sehr starken Intensivtherapie-Bereich in Deutschland. Wir haben 28.000 Intensivtherapiebetten. Das ist sehr viel, verglichen mit der Bevölkerungszahl mit anderen Ländern.

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Anja Martini: Das heißt, die Krankenhäuser sind gut vorbereitet in Deutschland?

Christian Drosten: Ich glaube, dass kein Land pauschal von sich sagen kann, dass die Krankenhäuser gut vorbereitet sind auf so etwas, wie das, was hier bevorsteht. Wir haben hier eine Situation, die in rückblickender Zeit eigentlich nicht aufgetreten ist. Wir haben eine Pandemie, durch ein Virus verursacht, das kein Influenzavirus ist.

Pandemieplanung ist auf Influenza ausgerichtet, das liegt in der Natur der Sache, und das ist auch richtig gewesen. Wir haben hier ein paar Werkzeuge nicht, die wir bei der Influenza gehabt hätten. Bei der Influenza kann man die bestehende Produktionskapazität von Impfstoffen innerhalb eines guten halben Jahres auf das neue pandemische Virus umstellen. Dabei muss man nicht das Rad neu erfinden. Diese Produktionskapazitäten kann man jetzt nicht verwenden, sodass wir sagen müssen: Es wird keinen Impfstoff geben. Und das ist schwierig, denn in der Pandemieplanung steht zum Beispiel: Medizinisches Personal wird bevorzugt geimpft. Damit sind wir wieder bei unseren Überlegungen im Krankenhaus. Aber dann kommt dazu: So etwas wie Tamiflu, also ein Wirkstoff, der gegen Influenzaviren und gegen neu aufkommende pandemische Viren wirkt, steht hier ebenfalls nicht zur Verfügung. Wir sind rein auf nicht-pharmakologische Interventionen angewiesen, auf das Managen der Arbeitsabläufe, und das auf jeder Ebene.

Wir brauchen pragmatische Lösungen

Wir müssen in den Krankenhäusern dafür sorgen, dass das medizinische Personal arbeitsfähig bleibt. Wir haben dem gegenüberstehend Quarantäneregeln, Isolationsregelungen, die damit nicht kompatibel sind. Und das wissen alle Behörden, wir gleichen uns da auch ab. Die großen Kliniken stehen untereinander und mit den jeweiligen Behörden in Verbindung. Man muss da gemeinsame Lösungen finden. Auch hier die Wiederholung meiner immer wiederkehrenden Aussage: In so einer Pandemie ist niemand an etwas schuld. Man muss pragmatisch sein und gemeinsam Lösungen finden.

Konkret sieht das so aus, dass Universitätskliniken gerade an Lösungen arbeiten, wie man außerhalb von Isolationsmaßnahmen Personal arbeitsfähig hält, indem man die zum Beispiel jeden Tag auf das Virus testet und dann entscheidet, wer infiziert ist und wer nicht. Und das nicht nur auf einer Basis, einer Überlegung, man könnte für 14 Tage jetzt infektiös werden, also auf der Basis einer Inkubationszeit. Dann müssten alle Ärzte und Schwestern und Pfleger, die Kontakt mit einem Patienten hatten, für 14 Tage zu Hause bleiben. Das können wir uns nicht leisten, dann steht das Krankenhaus still.

Wenn wir Daten aus Wuhan anschauen, da gibt es einen ganz gravierenden Befund: Die Fallsterblichkeit in Wuhan liegt bei drei bis vier Prozent. Die Fallsterblichkeit außerhalb von Wuhan, in der Provinz Hubei, also im Speckgürtel von Wuhan, liegt nur bei 0,7 Prozent. Warum ist das so? Weil in Wuhan das Medizinsystem komplett überlastet war. Außerhalb von Wuhan hat sich das verdünnt, obwohl zeitgleich in dieselbe Population das gleiche Virus eingetragen wurde.

Ausbreitung verlangsamen

Das ist etwas, das wir uns hier auch klarmachen müssen. Wir müssen den Belastungspuls von der klinischen Versorgung wegbekommen. Wir müssen das Ganze zeitlich strecken. Und wir haben schon über die versorgenden Bereiche in den Kliniken aus Sicht der Klinikmitarbeiter geredet. Die gleiche Überlegung müssen wir auch aus Sicht der Patienten machen. Es ist genau dasselbe. Wenn wir uns vorstellen, wir müssen dieses Jahr in dieser Krankenhaus-Ambulanz vielleicht 5000 oder 6000 Patienten mit diesem Virus behandeln, zusätzlich zur normalen Versorgung – dann ist es besser, wenn sich das auf ein paar Monate verteilt, als wenn das alles in ein paar Wochen kommt. Und die Krankenhausambulanz ist da noch eine harmlose Überlegung, da denkt man nur an überfüllte Wartebereiche. Viel schlimmer wird es auf der Station, wo dann nicht genug Betten da sind. Noch schlimmer wird es auf der Intensivstation, wenn nicht genug Beatmungsplätze da sind. Wo man dann irgendwann auch in eine Situation kommt, dass Beatmungsplätze so limitiert sind, dass man entscheiden muss: Wer wird beatmet? Dass also eine Triage-Überlegung gemacht werden muss. Und das ist eine Situation, in die wir nicht kommen wollen. Darum sind wir im Moment wieder bemüht, vom Grund des Gesundheitssystems aus, und das ist die öffentliche Gesundheit, die Verbreitungsgeschwindigkeit dieses ganzen Geschehens zu verlangsamen und dann aber auch da zu verlangsamen, wo es besonders wichtig ist. Also bei den Gruppen, von denen wir schon wissen, dass die mit größerer Wahrscheinlichkeit auf der Intensivstation landen.

Anja Martini: Krankenhäuser haben ja schon angefangen, planbare OPs ein bisschen zu verschieben, Betten freizuhalten. Ist das der richtige Weg?

Christian Drosten: Ja. Ich hätte bis letzte Woche noch gesagt: Jetzt müssen wir abwarten, ob das wirklich so kommt, dass die Infektionswelle jetzt direkt durchläuft, die wir jetzt ganz am Anfang sehen in Deutschland. Oder ob wir vielleicht mit dem Temperatureffekt und dem Frühjahrseffekt und Sommereffekt doch ein Abschwächen des Geschehens bekommen und erst im Winter eine große Infektionswelle bekommen.

Da muss ich schon sagen – es ist ja so, dass wir immer dazulernen bei dieser Erkrankung – da hat sich meine Einschätzung im Laufe der letzten Woche geändert. Durch eine wichtige Studie, die erschienen ist. Eine Modellierungsstudie, muss man dazusagen. Alles, was wir im Moment haben, um die Zukunft vorauszusagen, sind Modellrechnungen. Und so eine Studie ist herausgekommen von einer weltweit führenden Gruppe. Die sagt voraus, dass der Temperatureffekt auf dieses Virus relativ klein sein wird.

Höhepunkt von Juni bis August

Das ist etwas, das uns zum Umdenken bringen sollte. Wir sollten mehr diese Überlegung verlassen, zu sagen: Jetzt müssen wir mit aller Kraft in der Bevölkerung versuchen, den Sommer still zu kriegen und dann für den Winter Zeit zu kaufen – und im Sommer alle Kliniken ganz besonders gut auszustatten, damit man dann richtig vorbereitet ist auf eine Winterwelle. Das hätte ich bis letzte Woche Donnerstag noch so gesagt. Aber im Moment ist meine Einschätzung mehr, dass wir wahrscheinlich eine direkt durchlaufende Infektionswelle bekommen.

Das heißt: Wir müssen damit rechnen, dass ein Maximum von Fällen in der Zeit von Juni bis August auftreten wird. Und wenn wir davon ausgehen, müssen wir noch mal überlegen: Was muss denn jetzt gemacht werden?

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Anja Martini: Aber wir haben immer noch viele Meldungen, dass es in Krankenhäusern an Desinfektionsmittel fehlt, an Handschuhen, an Masken und auch schon fast an Personal. Wie sollen wir das schaffen? Wie können wir das schaffen?

Christian Drosten: Indem wir die Ressourcen da einsetzen, wo sie wirklich was bringen. Wir haben im Moment eine sehr breite Taktik, in der gesamten Bevölkerung eine Verzögerung zu erreichen, das müssen wir natürlich auch durchhalten. Die Frage ist nur: Mit welchen Mitteln? Die große Herausforderung, die sich jetzt auf der Planungsebene stellt, angefangen vom Gesundheitsministerium, dann die Gesundheitsministerien der Länder, die Gesundheitsämter, aber natürlich auch die Planungsebenen in der versorgenden Medizin, also in den Kliniken: Es ist die gleiche Überlegung. Wir haben nicht unendlich viele Ressourcen, die wir da reinstecken können. Damit ist nicht nur Geld gemeint, sondern es gibt Dinge, die kann man mit Geld nicht bezahlen. Man kann jetzt nicht schnell neue Fachkräfte einstellen. Es gibt auch Dinge, da könnte man sagen, da kann man jetzt Bestellungen lostreten, und man kriegt das einfach nicht geliefert, weil es ausverkauft ist. Da muss man jetzt anders planen und muss sich die Krankheit wieder anschauen und schauen: Wo sind die Bevölkerungsgruppen, die wir wirklich schützen müssen?

Risikogruppen schützen

Das haben wir ja schon besprochen, das sind vor allem die Älteren, und zwar vor allem über 65. Da steigt die Fallsterblichkeit rapide. Während wir in den Gruppen unterhalb von 60 (und dann noch viel deutlicher unterhalb von 50 Jahren) – ich will jetzt diesen Begriff einfach noch mal sagen – eine Erkältungskrankheit haben, auch wenn ich dafür wieder angegriffen werde. Aber irgendwie muss man sich die Dinge ja vorstellen können.

Und so ist es nun mal: Wir haben in diesen jüngeren Bevölkerungsgruppen eine Erkrankung, die nicht sehr stark zu Buche schlägt, in Form von Todesfällen. Und wir haben weit überproportional ein Anwachsen der Todesfälle in den älteren Bevölkerungsgruppen. Dann haben wir zusätzlich noch in allen Bevölkerungsgruppen wahrscheinlich ein höheres Risiko bei Grunderkrankungen. Das können Patienten mit Immunsuppression sein, mit Tumorerkrankungen. Es können aber auch Patienten mit metabolischen Grunderkrankungen sein, also Diabetiker, Personen, die einfach einen hohen Körperfett-Index haben.

Und Personen, die auch aus anderen Gründen an Herz und Lunge vorgeschädigt sind. Vor allem Herz-Vorgeschädigte scheinen betroffen zu sein.

Wir haben also wenige, aber besonders zu schützende Personen in den jüngeren Bevölkerungsgruppen. Und wir haben eine gesamte ältere Bevölkerungsgruppe, wo wir sagen können, das Rentenalter ist ein guter Maßstab. Jenseits des Rentenalters muss man die Bevölkerung wirklich schützen. Dann haben wir eine neue Arbeitshypothese für all diese Planungsbereiche.

Welche Maßnahmen sind sinnvoll?

Jetzt muss man sich das anschauen – mit einem gesunden Augenmaß und auch mit einer Kosten-Nutzen-Überlegung. Kosten-Nutzen meine ich nicht nur wirtschaftlich, sondern Planbarkeit. Auch Zeit kann man in Kosten rechnen. Wir müssen jetzt fragen: Wo investieren wir unsere Kraft? Und bei den älteren Personen ist es zum Teil eine etwas andere Überlegungen als bei den jüngeren, besonders Gefährdeten. Bei denen brauchen wir zum Beispiel ganz schnell eine Regelung, die es allen Arbeitgebern ermöglicht, solche Personen entweder für eine Zeit freizustellen und dann mit Aufgaben zu betrauen, die unter der Überschrift „Homeoffice“ stehen. Und das sind Überlegungen, bei denen die Arbeitgeber Hilfe brauchen, auch finanzielle Hilfe.

Dann haben wir in den älteren Bevölkerungsgruppen eine breitere Überlegung. Da sind es viel mehr Personen. Da muss man überlegen: Wie schützt man jemanden, der im Rentenalter ist, vor so einer Virusinfektion – und zwar während das Virus in der jüngeren Bevölkerung im Sommer jetzt einen Durchseuchungszug startet. Dieser Begriff „Durchseuchung“ ist ein alter epidemiologischer Begriff. Ich benutzte den hier fast reflexartig, der steht in den Lehrbüchern. Er hört sich schlimm an, sagt aber ein eigentlich dasselbe wie „Durch-Infektion“. Wir werden jetzt in der jüngeren Bevölkerung wohl vor dem Sommer und über den Sommer schon durch-infiziert und sind danach weitflächig immun. Das ist das Gute. Dann wird es auch etwas zur Beruhigung kommen nach dieser Sommerwelle. Wir wollen diese Sommerwelle von der älteren Bevölkerung weghalten.

Die Situation ist ernst

Dafür muss man kein Wissenschaftler sein, sondern dafür braucht man nur einen gewissen Lebensbezug. Da können wir uns Gedanken machen, wie man das tut, wie man das organisiert. Jeder hat da seine Familie, jede Familie ist natürlich speziell. Aber viele Regeln sind eben gleich. Wie können wir das machen? Das Umschalten von einem Modus, also die Kinder, die sich infizieren und das Virus von sich geben, jetzt mal bis zum September oder Oktober nicht mehr bei Oma und Opa zur Betreuung abgeben, sondern stattdessen für Oma und Opa einkaufen, dass die nicht ständig in den Supermarkt müssen. Das ist ein Dienst, den wir alle leisten müssen. Und das wird für alle schmerzhaft sein und unbequem. Also die Überlegung, nicht mehr auf diese Kinderbetreuungsressource Oma und Opa zurückgreifen zu können, und stattdessen Oma und Opa als einen schützenswerten Bereich anzusehen, wo man mithelfen muss. Wo man einfach sagen muss: Wir kaufen für die ein, und wir versorgen die. Und wir bringen denen das auch bei. Wir sprechen mit denen und sagen denen: Es ist ernst.

Ich habe gestern mit meinem Vater telefoniert, der lebt in einem ländlichen Bereich. Und der sagt mir, alle seine Altersgenossen sehen das im Fernsehen, und die finden das super, dass der Sohn von dem Drosten immer im Fernsehen ist. Die finden das verfolgungswürdig und schicken sich per WhatsApp die neuesten Informationen zu. Aber die beziehen das noch nicht wirklich auf sich. Die haben noch nicht verstanden, dass sie in dieser Altersgruppe sind – mein Vater ist über 70 und seine Alterskollegen, Vereinskollegen und so weiter, das ist ein blühendes Vereinsleben dort im ländlichen Bereich – dass sie eigentlich die wirklich Betroffenen sind und dass auch das Sozialleben jetzt für einige Monate aufhören muss. Der Verein, das Fitnessstudio und auch leider das Schützenfest. Dass das alles in diesem Sommer betroffen sein wird und dass es jetzt ernst ist. Und wenn man das nicht ernstnimmt, dass man davon ausgehen muss, dass Raten, die sich im Bereich von 20 Prozent, 25 Prozent dieser Personen bewegen, sterben werden. Da schluckt man dann natürlich, das muss man aber vermitteln.

Anja Martini: Es gibt ja den Vorschlag von Gesundheitsminister Spahn, in Deutschland auch zu sagen: Veranstaltungen über 1000 Personen werden jetzt ausfallen müssen oder sollten ausfallen. Das geht in die Richtung, oder?

Christian Drosten: Genau. Wir haben jetzt über ein konkretes Beispiel gesprochen: Wie erklärt man das den Eltern oder in den Familien den Großeltern, dass es sie betrifft und dass man ihnen hilft? Dass sie aber verstehen müssen, dass sie das ernst nehmen müssen.

Aber wir können auch wieder von dieser sehr privaten Ebene weggehen und sagen: Was macht denn jetzt ein Gesundheitsminister daraus? Was muss man auf so einer hohen Planungsebene machen? Da gibt es Dinge, die gegeneinander spielen. Es gibt die Überlegung, einfach alles stillzulegen. Zu sagen: Es gibt keine öffentlichen Versammlungen mehr, alle Schulen und Kindergärten werden geschlossen. Was macht man damit? Was kann man damit erreichen? Und da ist wieder diese Kosten-Nutzen-Überlegung zu machen. Da kommen dann solche Überlegungen her: Es gibt Versammlungen, die sind groß, und es gibt Veranstaltungen, die sind klein. Es gibt Versammlungen, die sind systemrelevant, andere sind Vergnügen. Da würde man sagen, große Versammlungen, die Vergnügen darstellen, auf die müsste man verzichten, auf die, die nicht systemrelevant sind. Denn da verhindert man viele Infektionen. Wenn man das sein lässt, richtet man möglichst wenig Schaden damit an, da spreche ich jetzt durchaus vom Fußball und vom Schützenfest.

Auf Großveranstaltungen verzichten

Auf der anderen Seite gibt es Dinge, die wirklich wichtig sind. Im Wirtschaftsleben gibt es Versammlungen, die müssen stattfinden, weil in einer großen Firma vielleicht bestimmte Entscheidungen nur in einem zweitägigen Treffen getroffen werden können, wo man wirklich intensiv miteinander redet. Aber das sind keine Veranstaltungen in einem großen Bereich, das sind vielleicht 100 Leute. Da muss man eine sinnvolle Zahl finden. Da muss man auch gut kommunizieren können.

Und da ist vielleicht eine Zahl von 1000 eine greifbare Zahl. Es ist nicht möglich, dass man alles, was man entscheidet, mit Daten und Modellen hinterlegt. Die Schweizer haben ja diese 1000 als Maßgabe einfach mal vorgegeben. Und da haben viele Personen, auch auf der Entscheidungsebene den Eindruck, dass das eine gute Maßgabe ist. Dass da vielleicht eine Trennung ist zwischen Großveranstaltung und etwas, das kleiner, aber doch systemrelevant ist.

Anja Martini: In Deutschland ist diese Entscheidung Ländersache. Es gibt viele Stimmen, die sagen: Nein, das muss jetzt einfach einmal geregelt werden. Wie sehen Sie das?

Christian Drosten: Ja, das ist tatsächlich der Föderalismus, und man kann sich darüber aufregen, aber so sind unsere Gesetze nun mal. Da ist das, was jetzt das Gesundheitsministerium oder alle anderen Bundesministerien sicher auch machen werden, eine starke Richtliniensetzung, aber kein Gesetzesdurchgriff auf die Länder. Und die Länder müssen sich dann an diese starke Richtliniensetzung halten, aber sie müssen dann natürlich auch den Bund für die entstehenden Finanzenaufkommen um Erstattung bitten dürfen – das muss der Umkehrschluss sein. Ich glaube, es wird in dieser Woche in der Politik ganz wichtig sein, dass man sich da fest miteinander austauscht und Zusagen macht.

Anja Martini: Wenn wir noch mal nach Deutschland gucken: Es gibt, das sieht man auch im Freundeskreis oder bei Kollegen, zwei Richtungen. Einmal die Hamsterkäufe und ein Anflug von Hysterie. Und dann die Menschen, die sagen: Das trifft mich nicht, es interessiert mich auch nicht. Eigentlich ist es mir egal, hört doch bitte auf, über Corona zu reden. Was ist Ihre Erkenntnis? Was bemerken Sie? Sind wir angekommen in dieser Hysterie oder sind wir in der Gelassenheit? Und was ist falsch, was ist richtig?

Christian Drosten: Ja, es gibt eben beide Diskussionsströme. Dieses: Na ja, aber lass mal über was anderes reden. Und die Hysterie, über die wird wenig geredet, die sieht man an solchen Erscheinungen wie Hamsterkäufen. Und das Ganze ist nicht fokussiert. Es muss aber fokussiert werden auf die vulnerable Bevölkerung. Das ist in den nächsten ein, zwei Wochen auch in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit das Allerwichtigste, dass man versteht, dass wir nicht nur indirekt arbeiten sollen, dass nicht die gesamte Bevölkerung im Moment sich ausrichten kann. Wir hoffen auch, dass es nicht so schlimm kommt, dass das dann notwendig wird. Auch da gibt es keine Garantie. Es kann sein, dass wir in sechs Wochen oder so so weit sind, dass wir eine richtig schlimme Situation haben. Dann muss man auch weitergreifen. Es ist im Moment einfach ein Prozess.

Der Prozess muss zeitlich sinnvoll sein, und er darf nicht zu weit den Ereignissen hinterherlaufen. Im Moment ist es sinnvoll, dass wir jetzt sagen: Es wird wahrscheinlich ein direktes Durchlaufen der Infektionswelle werden, wir haben also noch weniger Zeit als gedacht. Wir werden ans Ende unserer Kräfte kommen, und deswegen müssen wir sehen, dass wir diese Kräfte jetzt da einsetzen, wo sie hingehören: an die ältere Bevölkerung und an die speziellen, besonders gefährdeten Gruppen in der jüngeren Bevölkerung. Dass wir alles tun, um dort die Maßnahmen greifen zu lassen, dass dort die Infektion nicht eingetragen und nicht weitergetragen wird.

Die Kraft, die wir dafür brauchen, die Manpower, also die Zeitressourcen, die  Personalressourcen -– die müssen wir dann aber wegnehmen von anderen Bereichen, wo sie im Moment eingesetzt werden. Damit meine ich, es wird sicher irgendwann dazu kommen, dass Gesundheitsbehörden eben nicht mehr den infizierten Studierenden mit all seinen Kommilitonen in der Quarantäne täglich kontrollieren und anrufen und fragen, ob jetzt einer Fieber hat. Da wird man irgendwann sagen müssen, das ist keine vulnerable Gruppe. Da muss man es letztendlich unkontrolliert lassen. Während man in anderen Bereichen, sagen wir mal Seniorenwohnheimen, mit extra großer Kraft hingucken muss.

Anja Martini: Ein Appell also an unsere Gesellschaft aufeinander achtzugeben?

Christian Drosten: Ich will noch eine Überlegung machen: Es wird viel über Schul- und Kitaschließungen gesprochen, nachdem auch rausgekommen ist, dass Kinder zwar nicht schwer erkrankten, aber eben doch auch infiziert werden können und das Virus weitergeben.

Da gibt es zwei Dinge, die ich sagen möchte. Zum einen: Die Grundüberlegung, dass Kitas und Schulen ein ganz besonderer Amplifikationsort sind, dass dort überproportional viel Virus weitergegeben wird, das gilt für eine saisonale Situation, aber nicht unbedingt für ein pandemisches Virus. Ein pandemisches Virus wird in allen Bevölkerungsgruppen gleich übertragen. Wir haben deswegen keinen besonderen epidemiologischen Fokus auf Kitas und Schulen, zumindest in einer so einfachen Überlegung nicht. Da werden Experten kommen und sagen: Die Daten zeigen es aber im Detail anders. Das mag alles sein, aber ich will die Grundüberlegung hier einmal kommuniziert haben.

Die andere Überlegung ist: Wenn wir Kitas und Schulen schließen, dann wird es zu Effekten kommen, die bei der Kita leicht vorzustellen sind. Dass die Kitagruppe sich dann im Haushalt eines der Elternpaare trifft – und wir haben eigentlich nichts gewonnen. Die Infektionstätigkeit geht dann weiter. Natürlich wird die Gruppe kleiner. Alles das ist mir bewusst, wenn ich das hier sage. Aber trotzdem: Man kann nicht über Kita- und Schulschließung alles unterbinden, was in dieser Altersgruppe passiert.

Die Schüler werden sich natürlich zum Daddeln treffen, und so weiter. Wenn man das machen will, würde man sagen, dann müsste man auch die Bewegungen dieser jungen Leute, dieser Kinder, einschränken. Das würde bedeuten, man würde auch die Bewegung der Eltern einschränken. Und dann wären wir eben bei einem richtigen gesellschaftlichen Lockdown, so wie in China passiert. Und ich glaube, und da stehe ich nicht allein, da gibt es erfahrene Epidemiologen, die sagen: Das ist jetzt nicht die Zeit, da machen wir mehr Kollateralschaden, für die Wirtschaft, aber auch für die Reaktionsfähigkeit der Gesellschaft, für die Medizin und für die öffentlichen Bereiche, als dass wir helfen angesichts der jetzigen epidemiologischen Verbreitung des Virus.

Wir wissen, wir können dieses Virus gar nicht mehr aufhalten, wir können es nur verzögern. Und wir müssen in der Verzögerung gleichzeitig die vulnerablen Gruppen ganz speziell schützen, und da die verfügbare Energie fokussieren.

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