Sendedatum: 26.02.2020 12:03 Uhr

(1) Coronavirus-Update: Wir können die Ausbreitung verlangsamen

SARS-CoV-2 heißt das neuartige Coronavirus, das uns zurzeit Tag für Tag in den Schlagzeilen beschäftigt. Und die Entwicklung hat sich beschleunigt, meint auch Professor Christian Drosten. Wir haben neue Fälle in Deutschland gemeldet und in anderen europäischen Ländern.

Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt erreicht, zu dem wir viel, viel Informationen brauchen. Wir sprechen deshalb jeden Tag mit dem Forscher, der gemeinsam mit seinem Team das Erbgut des Virus entschlüsselt und veröffentlicht hat. Er hat einen Test zum Nachweis entwickelt und berät auch die Bundesregierung.

Über diese und andere Themen reden wir mit Christian Drosten, dem Leiter der Virologie an der Berliner Charité.

Der Virologe Prof. Christian Drosten © picture alliance/Christophe Gateau/dpa Foto: Christophe Gateau

(1) "Wir können die Ausbreitung verlangsamen"

Sendung: Das Coronavirus-Update von NDR Info | 26.02.2020 | 13:03 Uhr | von Korinna Hennig
37 Min

Neue Fälle in Deutschland, die Verunsicherung steigt. Weshalb Virologen jetzt von einer Pandemie sprechen, wer besonders gefährdet und warum Hysterie unangebracht ist.

Die zentralen Fragen der Folge im Überblick

Wie verändern die Fälle, die jetzt bekannt geworden sind, Ihre Einschätzung der Lage?

Gibt es da auch ein Informationsproblem?

Wie geht das eigentlich vor sich? Telefonieren Sie auch mit den Kollegen oder kommunizieren Sie per E-Mail?

Sie haben gesagt, dass Italien relativ bekannte Strukturen hat. Hat man da die Infektionsketten nachvollziehen können?

Heißt das, dass eine allgemeine Infektanfälligkeit ein Risiko sein kann, wenn man in Ansteckungsgefahr ist?

Nach allem, was man weiß, trifft SARS-CoV-2, wie das neue Virus ja heißt, Kinder eher nicht so stark, richtig?

Was gilt eigentlich als Grunderkrankung?

Wie sieht es mit Schwangeren aus?

Wie können Sie denn jetzt in der Forschung diese Lücke schließen, die Sie vorhin angesprochen haben? Was kann die Forschung da tun? Wie sind Sie dem auf der Spur?

Da wir ja jetzt diese Fälle in Deutschland haben, die nicht zu einem Infektionsherd gehören, wie das in Starnberg bei dem Autozulieferer Anfang des Jahres war: Sprechen Sie jetzt schon von Pandemie?

Die Deutschen reisen gerne nach Italien und Spanien. In Hamburg gibt es demnächst Schulferien, müssen sich die Menschen denn hier jetzt auf was Besonderes einstellen?

Meinen Sie, es sollte eine Reisewarnung geben?

Ist es sinnvoll, sich zu bevorraten? Ist es sinnvoll, dass hier Schulen und Kitas geschlossen werden?

Warum machen denn alle so ein Drama um Corona - insbesondere wenn wir bedenken, dass es in diesem Jahr allein schon 130 Grippetote gegeben hat?

 

Podcast: Coronavirus-Update
Der Virologe Prof. Christian Drosten und die Virologin Prof. Sandra Ciesek (Montage) © picture alliance/dpa, Universitätsklinikum Frankfurt Foto: Christophe Gateau,

Coronavirus-Update: Der Podcast mit Drosten & Ciesek

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Korinna Hennig: Guten Morgen, Herr Drosten, sind Sie überhaupt zum Schlafen gekommen? Oder haben Sie die halbe Nacht Informationen zusammengetragen?

Christian Drosten: Also ich versuche, wenn's geht, nachts zu schlafen. Es gelingt mir nicht immer, aber ich trage dann nachts keine Informationen zusammen.

Korinna Hennig: Aber gestern Abend überschlugen sich die Meldungen ja ein bisschen…

Christian Drosten: Ja, das ist richtig. Gestern Abend war ich schon ein bisschen überrascht und bin auch jetzt immer noch so ein bisschen ratlos, was ich von der Sache halten soll. Der Fall in Baden-Württemberg ist relativ klar, der am Niederrhein ist überhaupt nicht klar.

Korinna Hennig: Was glauben Sie denn, wie schnell Sie uns vielleicht mehr erzählen können?

Christian Drosten: Also ich erwarte eigentlich, dass die Gesundheitsbehörden heute sehr intensiv nachforschen werden und dass wahrscheinlich schon erste Labortests auch laufen, und nach einem Tag kann man natürlich noch nichts Genaues und Konkretes sagen. Aber ich denke, wir werden schon bis heute Abend oder morgen wissen, ob in der Umgebung weitere Labortests positiv geworden sind. Und dann müssen wir eventuell auch noch mal darüber reden. Eventuell müssen wir aber auch noch mal ein oder zwei weitere Tage vergehen lassen.

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Der Virologe Prof. Christian Drosten © picture alliance/Christophe Gateau/dpa Foto: Christophe Gateau

(1) Wir können die Ausbreitung verlangsamen

Themen: Vergleich mit der Grippe, Gefährdung von Kindern, Schwangeren, Menschen mit Vor- oder Grunderkrankungen, Reisen Download (121 KB)

Korinna Hennig: Sie haben eben schon die Fälle angesprochen, die aktuellen Meldungen aus Deutschland. Wie verändern diese Fälle, die jetzt bekannt geworden sind, denn Ihre Einschätzung der Lage? Sie haben gesagt, Sie sind ein bisschen ratlos.

Christian Drosten: Na, die Einschätzung der Lage hat sich für mich schon am Wochenende geändert, als das italienische Cluster bekannt wurde. Und ich muss auch sagen, das hat mich gar nicht so beunruhigt. Also wir sehen natürlich, dass von diesem italienischen Cluster aus jetzt viel verschleppt wird innerhalb von Europa. Wir haben aber in Europa relativ belastbare Strukturen. Was mich vor allem beunruhigt, ist der Iran. Das ist eine ganz undurchsichtige Situation. Die haben für die Zahl der erkannten Fälle viel zu viele Todesfälle. Viel zu viel – das bedeutet, man muss da immer Zähler und Nenner rechnen. Und es wird eben nach aller Erwartung so sein, dass eine unglaublich große Zahl von unerkannten Fällen im Iran vorhanden ist. Ich würde mich nicht wundern, wenn diese Zahl jetzt schon zwischen 5.000 und 10.000 - oder sogar noch etwas höher läge.

Korinna Hennig: Gibt es da auch ein Informationsproblem? Das war ja auch immer im Zusammenhang mit China thematisiert worden, dass es hieß, wir wissen gar nicht, ob wir alles wissen, was wir wissen müssten.

Christian Drosten: China ist ja noch ein ganz anderes Problem. Im Iran kann man sich vorstellen, wo die Probleme eigentlich liegen. Denn wir sind, weil wir ja eigentlich weltweit die Diagnostik-Methoden verteilen, auch mit Kollegen im Iran in Kontakt. Und ich merke immer an der Art der Fragen, die so gestellt werden, wie gut die sich technisch auskennen. Und das ist natürlich im Iran, so wie in vielen anderen Ländern in dieser Region, so, dass es zwar Labore gibt: die top nationalen Labore, die das können, aber dann gibt es viele andere Labore, die einfach keinen guten Ausbildungsstand haben. So ist die Situation sicherlich im Iran. Aus China kriegen wir keine Fragen. China ist da ein geschlossenes System. In China gibt es natürlich eigens entwickelte Testsysteme, die werden zentral verteilt, aber wie gut die verfügbar sind, wie gut die funktionieren und so weiter, dazu kann ich eigentlich relativ wenig sagen.

Korinna Hennig: Wie geht das eigentlich vor sich? Telefonieren Sie da auch mit den Kollegen oder kommunizieren Sie per E-Mail?

Christian Drosten: Das meiste an Kommunikation läuft natürlich per E-Mail. Man kriegt aber immer auch mal einen Anruf, ganz unvorhergesehen. Man wundert sich auch, wer so alles die Handynummer hat. Gestern zum Beispiel saß ich in einer Sitzung und bekam auf einmal einen Anruf von einer Laborleiterin aus dem Iran, die ganz konkrete technische Fragen hatte zu bestimmten Tests, die sie von uns bekommen hat – ohne, dass wir das wussten. Wir verteilen die fast automatisch, kann man inzwischen sagen, und wir wissen gar nicht genau, wer alles weltweit mit unseren Tests arbeitet.

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Korinna Hennig: Sie haben jetzt aber gesagt, dass Italien relativ bekannte Strukturen hat – hat man da die Infektionsketten nachvollziehen können?

Christian Drosten: Zum Teil hat man natürlich jetzt nachvollzogen, wer sich an wem infiziert hat. Man hat ja vor allem auch Zeit gewonnen - durch diese Abriegelungsmaßnahmen, die da fast so in einer Nacht- und Nebelaktion verhängt worden sind. Also ich glaube, das hat da auch ein bisschen mitgespielt, dass die Behörden dort plötzlich vor einer Situation standen und irgendwas machen mussten. Und die haben mit dieser Abriegelung natürlich jetzt sehr viel Angst in der Bevölkerung geschürt, und auch die Kooperation von Teilen der Bevölkerung in Gefahr gebracht. Das ist etwas ganz Schlechtes – man muss natürlich aufpassen, dass man nicht die Bevölkerung verliert dabei. Aber ich glaube, es ist in dem Moment so die Maßgabe gewesen, wir müssen uns erst mal einen Überblick verschaffen. Und ich gehe weiterhin fest davon aus, dass dann diese Maßnahmen relativ bald jetzt auch zurückgefahren werden.

Korinna Hennig: Aus Verbrauchersicht sind ja diese Fälle in Deutschland aber nun vermutlich das, was die meisten Leute bewegt und verunsichert. Uns haben dazu auch viele Fragen erreicht. Sie sagen selbst, der eine Fall am Niederrhein, der ist komplett unklar. Das war kein älterer Mensch, wie wir sie ja sonst als Risikogruppe für schwere Verläufe kennen.

Christian Drosten: Ja, da habe ich dann zum Teil auch nur die Informationen aus den Medien. Es wird ja gesagt, es ist ein Patient so Ende vierzig, der aber auch eine Grunderkrankung offenbar hat, sagte die dpa. Das kann ich mir alles gut vorstellen. Und man muss auch dazu sagen, ich kann mir auch vorstellen, dass junge Leute in diesem Alter ohne Grunderkrankung innerhalb von ganz kurzer Zeit schwer krank sind und auf der Intensivstation liegen, wegen einer Infektion mit diesem Virus. Es ist durchaus nicht so, wenn man sagt, das betrifft in allererster Linie ältere Patienten über 70 mit schweren Erkrankungen, dass das heißt, dass jüngere Patienten nicht krank werden können. Das ist bei der Virusgrippe so der Fall. Das war selbst bei der relativ milden Schweinegrippe 2009 der Fall. Das ist aber auch bei vielen anderen Erkältungsviren der Fall, dass wir Patienten sehen, die jung und ansonsten gesund sind und plötzlich schwer erkranken – und wir wissen nicht genau, warum das so ist. Da können Zufälle dabei sein, da kann Genetik dabei sein – es ist allerdings sehr schwer, in Studien irgendwelche genetischen Einflüsse nachzuweisen. Also, ich denke, das ist häufig auch eine Frage von einer Infektionsgeschichte, die jemand gehabt hat, vielleicht eine Frage, ob jemand raucht, das wird im Moment immer gar nicht diskutiert. Ich halte das aber für einen wichtigen Faktor, weil wir auch wissen, dass in China vor allem die Männer rauchen, und wir sehen in China anhand der Daten, dass das männliche Geschlecht überbetont ist, bei den schweren Erkrankungen. Und da muss man schon irgendwann auch mal eins und eins zusammenzählen.

Korinna Hennig: Heißt das denn auch, dass zum Beispiel eine allgemeine Infektanfälligkeit – das war auch die Frage einer Hörerin von uns, die sagt, ich habe viele Infekte und meine kleinen Kinder kriegen auch viele Infekte –, kann das ein Risiko sein, wenn man denn in Ansteckungsgefahr ist?

Christian Drosten: Es ist so, dass wir eigentlich kaum überhaupt ein wissenschaftliches Korrelat dazu haben, dass jemand sagt, er hat eine allgemeine Infektanfälligkeit. Es gibt natürlich schwere Immundefizienz-Syndrome, die sind aber absolut selten. Und das ist hier in der Regel nicht gemeint, wenn jemand sagt, ich kriege immer schnell mal eine Erkältung. Es gibt diese Wahrnehmung, von manchen Leuten, die denken, ich werde mehr krank als andere. Diese Hörerin hat vielleicht schon eine Teilerklärung mitgeliefert: Sie hat ein kleines Kind und die kleinen Kinder sind, wie wir sagen, die Amplifikation von Erkältungsviren in der Bevölkerung. Das heißt, die immer laufende Nase, die aus der Kita mitgebracht wird, die ist voller Viren. Wenn wir im Labor Kinder und Erwachsene auf Erkältungsviren testen, und wir finden das gleiche Virus bei einem Kind und beim Erwachsenen, dann wundern wir uns nicht darüber, dass Kinder 10.000 mal mehr Virus in der Nase haben, als Erwachsene mit demselben Virus. Also, es ist wirklich so ein großer Unterschied. Die Viruskonzentration, die ist bei einem Erwachsenen dann vielleicht im Bereich von, sagen wir mal, tausend Kopien im Milliliter, und die beim Kind ist plötzlich über eine Million oder zehn 10 Millionen Kopien im Milliliter Nasensekret, und das macht natürlich Infektiosität aus.

Korinna Hennig: Nun habe ich aber gelernt, nach allem, was man weiß, SARS-CoV-2, wie das neue Virus ja heißt, trifft eher nicht so stark Kinder, richtig?

Christian Drosten: Ja, das ist vollkommen richtig. Also Kinder scheinen klinisch von dieser Erkrankung nicht stark betroffen zu sein. Das heißt aber nicht, dass sie nicht infiziert werden können. Und das heißt auch nicht, dass sie nicht andere infizieren können. Wir haben dazu genau genommen eigentlich noch gar keine Daten. Wir wissen gar nicht genau, ob Kinder effiziente Amplifikatoren für dieses spezielle Virus sind. Sie müssen sich das so vorstellen: Bei einem Erkältungsvirus, das landläufig verbreitet ist, sind alle Erwachsenen im Laufe des Lebens schon mal infiziert worden und sind zumindest teilweise immun und darum scheiden sie deutlich weniger Virus aus, denn das Virus wird im Körper des Erwachsenen in der Vermehrung gestoppt und eingedämmt. Das Kind hat keine Immunität. Es ist also für die meisten Erkältungskrankheiten, wie wir sagen, immunologisch naiv. Deswegen kann das Virus da frei laufen. Das heißt, hier haben wir eigentlich eine reine Immunfunktion, die das Virus bei Erwachsenen eindämmt. Und diese Immunität fällt aber mit aller Wahrscheinlichkeit bei diesem neuen Virus weg. Genau wie das auch bei neuen Grippe-Pandemie-Viren weitgehend wegfällt. Weil eben das Virus für die gesamte Bevölkerung, auch für die Erwachsenen, ein neues Virus ist, sind dann alle immunologisch naiv, und da replizieren – also replizieren heißt vermehren – auch die Erwachsenen in ihrer Nase oder in ihrem Rachen sehr hohe Viruskonzentration und infizieren sich stark gegenseitig. Und deswegen nivelliert sich hier die Infektiosität. Also wir glauben, bei einem pandemischen Virus sind alle ungefähr gleich infektiös, bei einem saisonalen endemischen Virus, das sind also die landläufig verbreiteten Erkältungsviren, da sind die Kinder überbetont infektiös.

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Korinna Hennig: Ich will auf die Grippe, auf den Vergleich gleich auch noch mal kommen. Aber wir waren vorhin bei dem Thema Grunderkrankung. Was gilt denn da eigentlich als Grunderkrankung? Auch das war die Frage eines Hörers.

Christian Drosten: Ja, es sind allgemeine, sehr breit vertretene Erkrankungen, die eben auch mit dem Älterwerden einhergehen. Also Lungenerkrankungen, Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, die letztendlich aus dem hohen Blutdruck kommen und dann aufs Herz schlagen, also Bluthochdruck. Und dann die Spätfolgen: Herzinsuffizienz, solche Erkrankungen, die eben weit verbreitet sind, auch Zuckerkrankheit zum Beispiel in seinen stärkeren Formen, Diabetes Typ 2, im Alter mit den entsprechenden Stoffwechselfolgen. Also, man kann da gar nicht so gut trennen zwischen älter werden und kränker werden. Was nun mal passiert.

Und dann haben wir noch ein anderes Phänomen: Das sind die jüngeren grunderkrankten Patienten. Und wenn es eben im Rahmen einer Infektionswelle so kommt, dass wir da zum Beispiel überlegen müssen, wer braucht vielleicht ein Krankenhausbett und wer kann nach einem positiven Testergebnis wieder nach Hause gehen, dann wird man da natürlich auch ganz besonders hinschauen müssen. Dann wird man sagen müssen, dieser Patient ist schon älter, da müssen wir vorsichtig sein. Oder man wird auch hier und da schauen, dieser Patient ist jünger – er hat vielleicht gerade eine Krebserkrankung überstanden, hat vielleicht ein Herzleiden. Da wird man natürlich trotz eines jüngeren Alters auch eher die Tendenz haben, so jemanden im Krankenhaus zu behalten.

Korinna Hennig: Wie sieht es mit Schwangeren aus?

Christian Drosten: Ja, es ist im Moment so, dass Schwangere hier nicht besonders gefährdet scheinen. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Es gibt ja zwei Dinge, die man hier überlegen kann. Bei der Virusgrippe ist es so, dass Schwangere einfach per se einen schweren Verlauf bekommen. Das bedeutet nicht, dass das ungeborene Kind von dem Influenzavirus infiziert wird, sondern das bedeutet einfach, dass Frauen während der Schwangerschaft eine Modifikation ihres Immunsystems erfahren. Das hat also spezifisch mit der Schwangerschaft zu tun. Und das scheint für das Influenzavirus hier und da die Türen zu öffnen und die Erkrankung schwerer verlaufen zu lassen. Also, Schwangere sind immer von einem schweren Influenzaverlauf betroffen. Und das ist bei diesem Virus nicht so. Dafür gibt es keine Hinweise, das ist erfreulich. Man muss aber natürlich einschränkend sagen, das basiert im Moment alles auf Studien aus China. Und diese Studien sind vorläufig und häufig auch mit der heißen Nadel gestrickt und basieren auf relativ wenigen Patienten. Also, es ist nicht so auf Dauer, dass das so bleiben muss. Es kann sein, dass wir in zwei Wochen anders darüber sprechen. Aber es gibt Anfangsdaten, und diese Anfangsdaten weisen nicht darauf hin, dass Schwangere selbst, also die Mutter selbst, gefährdet ist mit einem schwereren Verlauf. Für das ungeborene Kind gilt eine andere Überlegung. Da ist es so, dass es Viruserkrankungen gibt – wie gesagt, da gehört die Virusgrippe nicht dazu –, die während der Schwangerschaft das ungeborene Kind infizieren. Und dann kommt es manchmal, ohne dass die Mutter das merkt, möglicherweise zu einer Vitalschädigung bis hin auch sogar zu einer Fehlgeburt. Für das alles das haben wir bei diesem Virus hier keinerlei Hinweise. Das würde mich auch sehr wundern, wenn das so wäre. Wir sehen bei Patienten, die wir bis jetzt getestet haben – und das sind durchaus schon einige – kein Virus im Blut. Es gibt schon Studien aus China, die das hier und da mal so auch gelegentlich gesehen haben, aber diesen Studien glaube ich nicht. Das sind nur flüchtige Nachweise des Virusgenoms. Ich glaube überhaupt nicht, dass dieses Virus sich im Blut vermehrt, und das ist eigentlich eine schon Voraussetzung – also das Virus müsste im Blut sein, um über die Plazenta zum ungeborenen Kind zu kommen.

Korinna Hennig: Nicht im Blut heißt in dem Fall, es ist zum Beispiel in der Nase und in Körperflüssigkeiten, aber es dringt sozusagen nicht bis ins Blut vor.

Christian Drosten: Ja, dieses Virus scheint erst mal in den Atemwegen zu bleiben. Und es scheint sich wohl auch im Magen-Darm-Trakt aktiv zu vermehren, so glauben wir. Wir glauben aber gleichzeitig nicht, dass infektiöses Virus in relevanter Art und Weise im Stuhl ausgeschieden wird. Da gibt es andere Viren, da ist die Stuhlausscheidung hoch infektiös. Hygieneprobleme – beim Norovirus beispielsweise. Das scheint hier nicht die Situation zu sein.

Korinna Hennig: Wir hören es schon immer so ein bisschen durch: Sie sagen „wir glauben“ und „Stand jetzt“. Information ist tatsächlich die Währung, in der in diesen Zeiten mit diesem neuartigen Virus gezahlt wird. Wie können Sie denn jetzt in der Forschung diese Lücke schließen, die Sie vorhin angesprochen haben? Wir wissen nicht, warum bei manchen Patienten die Erkrankung schwerer verläuft, obwohl keine Vorerkrankungen bekannt sind und sie nicht über 70 sind. Was kann die Forschung da tun? Wie sind Sie dem auf der Spur?

Christian Drosten: Das ist eine der schwierigsten Fragen in der Forschung überhaupt, das ist ganz schwer greifbar, warum bestimmte Patienten infektanfälliger sind – oder auch nur scheinbar sind. Es gibt Studien dazu. Wir sind auch an so etwas beteiligt, aber dazu braucht man sehr große Patientenzahlen, die man extrem gut organisieren muss. Es läuft jetzt ein europäisches Projekt an, ein Vorprojekt dafür ist schon unterwegs, da sind wir schon beteiligt. Wir haben jetzt nochmal eine Spezifizierung dieses Projektes geplant und auch dafür Forschungsgeld beantragt, um große Patientenzahlen zu registrieren und die dann auch genetisch zu testen - nicht nur auf das Virus zu testen, sondern auch auf ihre Gene. Und da kann ich aber leider auch immer noch nicht garantieren, dass dann was dabei herauskommen wird. Denn die Menschen sind zu verschieden. Und bei den normalen Erkältungskrankheiten kriegt man eigentlich nicht genügend große und gut standardisierte Patientenkohorten zusammen. Das mag jetzt bei diesem Virus anders sein, weil eben eine Infektionswelle kommt. Und hier ist die Frage, sind wir rechtzeitig in der Lage, diese Patienten so zu testen, wie wir das brauchen? Oder kommt die Infektionswelle vorher und wir haben es verpasst? Das kann ich also im Moment nicht garantieren.

Korinna Hennig: Da wir ja jetzt diese Fälle in Deutschland haben, diese neuen Fälle, die nicht zu einem Cluster gehören, also zu einem Infektionsherd, wie das in Starnberg bei dem Autozulieferer Anfang des Jahres war: Sprechen Sie jetzt schon von Pandemie?

Christian Drosten: Nun also, das sind relativ unverbundene Überlegungen. Also, man kann sich zu diesem Cluster in München klar machen, das war ja eine Geschäftsreisende aus China, die kam für ein paar Tage, um so eine Art Fortbildung zu halten. Die ist dann wieder zurückgeflogen, und wurde praktisch auf dem Heimweg richtig krank. Die war damals in München auch schon so ein bisschen krank und hat Paracetamol genommen, um das zu unterdrücken, und hat gedacht, na ja, es ist wahrscheinlich nur Jetlag. Und dann wurde sie richtig krank und hat dann aber in München angerufen und gesagt, ich bin positiv getestet worden, hier in China auf das Virus, und ihr müsst aufpassen. Und nur dadurch hat dann letztendlich der Leiter dieser Firma seine Mitarbeiter kontaktiert und gesagt: „Vorsicht! Hat jemand hier die Symptome?“ - und da war gleich einer dabei, der Symptome hatte und so ging das dann los. Dann wurde gleich das Gesundheitsamt involviert, und man hatte nur eine ganz kurze Zeit – rückblickend nur ein paar Tage – wo man sagen musste, da können sich Leute infiziert haben. Da wussten wir das noch nicht, jetzt können wir zurückfragen.

In Italien ist das anders gewesen. Da ist das nicht passiert. Und da weiß man bis heute eigentlich gar nicht genau, ob es nur eine oder mehrere Einschleppungen waren, die man da verpasst hat. Und man weiß auch gar nicht genau, wie lange man zurückblicken muss, um an den Grund des Problems zu kommen. Und man kann das jetzt auch nicht mehr. Diese Zeit lässt sich nicht mehr aufholen. Und wir müssen uns schon klar machen, wenn das in München nicht so gewesen wäre, dass da jemand Bescheid gesagt hätte, dann könnte es sein, dass wir bis heute von diesem ganzen Münchner Cluster nichts wüssten. Oder dass irgendwo in München und Umgebung irgendwann ein schwerer Fall auftauchen würde und wir alleine dadurch darauf kommen würden. So ist es ja in Italien passiert.

Korinna Hennig: Nun haben wir diese neuen Fälle, und wir wissen, die Deutschen reisen gerne nach Italien und Spanien. In Hamburg gibt es demnächst Schulferien, müssen sich die Menschen denn hier jetzt auf was Besonderes einstellen? Ich glaube, die Sorge ist relativ groß.

Christian Drosten: Es ist im Moment eine ganz schwierige Situation für Behörden, hier offizielle Warnungen herauszugeben, weil sich ja wirklich von Tag zu Tag die Situation ändert. Und zu dieser Unsicherheit gehört natürlich auch dazu, dass wir wirklich von heute auf morgen auch feststellen könnten, dass wir anderswo in Deutschland als in München ein ähnliches Problem haben wie die Italiener, und wir haben das noch nicht gemerkt. Plötzlich finden wir am ersten Tag 20 und dann hundert Fälle. So etwas kann ich in Deutschland überhaupt nicht ausschließen. Und darum ist ein Prozess, jetzt zu überlegen, brauchen wir eine Reisewarnung in ein Nachbarland, fast schon müßig für eine Behörde. Und wir sprechen da ja dann vom Auswärtigen Amt.

Korinna Hennig: Das heißt, es sollte eine Reisewarnung geben, meinen Sie?

Christian Drosten: Nein, ich sage nicht, dass wir da eine Reisewarnung brauchen. Es ist eher eine Überlegung, die jetzt zu dem zurückkommt, was Sie in der Frage vorher eigentlich auch mit angeschnitten haben, nämlich die Frage: Haben wir jetzt eigentlich eine Pandemie? Und ich denke: Ja, wir haben sie. Man muss die WHO auch verstehen, als UN-Organisation auf einem diplomatisch hochempfindlichen Parkett. Wenn ein Doktor Tedros, der Chef der WHO, sagt, das Fenster schließt sich zunehmend, und wir müssen uns einstellen auf eine Pandemie: Da muss man sich klar machen, eine Pandemie ist erst mal eine Definitionsfrage. Jetzt ist auch noch ein Fall in Brasilien aufgetreten, der hatte immerhin eine Reisegeschichte – aber ich denke, es wird auch noch in nächster Zeit auch in Südamerika zu Clustern kommen. Und dann allerspätestens haben wir eine Pandemie. Und natürlich, wenn jetzt Afrika dazu käme, dann hätten wir natürlich in jedem Fall eine Pandemie.

Niemand ist schuld

Und die Frage ist, hat man denn in Afrika überhaupt die Möglichkeit, das nachzuweisen? Und die Antwort ist ganz klar: Nein. Also es wird natürlich im Moment viel gesagt, wie bemüht alle sind, den Afrikanern zu helfen. Und ich kann Ihnen sagen, wir haben von hier viele afrikanische Labore auch schon mit Reagenzien versorgt. Aber ich glaube nicht, dass die das deswegen alle jetzt schon können. Und: Es ist ja nicht so, dass die Fälle in der Hauptstadt auftreten, gleich neben dem zentralen Labor – neben dem einen, das es gibt im Land –, und dass die dann auch gleich gemeldet und bemerkt werden. Denn das sind ja in allererster Linie milde Krankheitsverläufe. Und dann ist es ja in afrikanischen Ländern so: Ein Erwachsener mit Fieber hat vor allem erst einmal Malaria. Da denkt keiner an so eine Erkrankung. Und Lungenentzündungen durch Influenzavirus kommen auch in Afrika vor und werden dort nicht diagnostiziert. Wir können fast davon ausgehen, dass es schon längst Fälle und Fallhäufungen in Afrika gibt, die aber nicht erkannt werden. Und deswegen, mit all dem Wissen und dann noch mit dem Wissen um den Iran, wo jetzt das Virus eindeutig in die arabische Welt hineingetragen wird. Wir haben schon weiter Verschleppungen in mehrere arabische Länder, und wir wissen, wie konnektiv die arabische Welt mit Afrika ist. Natürlich haben wir eine Pandemie. Unter diesem Eindruck jetzt noch zu sagen, soll sich Deutschland vielleicht von Holland abschotten oder Italien von Österreich? Das ist fast schon eine müßige Überlegung. Wir müssen jetzt aufhören, den Blick nach außen zu kehren und letztendlich mit dem Finger auf Nachbarländer zu zeigen und sagen, die haben's verbockt, oder da ist das Missgeschick passiert – das ist vollkommen müßig. Niemand ist an irgendetwas schuld angesichts einer Pandemie. Das ist eine Naturkatastrophe, die in Zeitlupe stattfindet. Und wir können alle nur versuchen, unseren Beitrag zu leisten.

Korinna Hennig: Ich höre immer ein bisschen raus, dass Ihre Sorge eigentlich tatsächlich nach wie vor mehr auf dieser internationalen Ebene spielt. Der Grat zwischen Hysterie und sinnvoller Vorsorge ist ein ganz schmaler. Wie diskutieren das hier in der Redaktion auch wieder jeden Morgen aufs Neue. Gerade heute hat mir jemand von Hamsterkäufen erzählt, auch hier in Deutschland, wie wir sie aus Italien auch gehört haben. Ist es sinnvoll, sich zu bevorraten? Ist es sinnvoll, dass hier Schulen und Kitas geschlossen werden? Wie beurteilen Sie das?

Christian Drosten: Nein, es ist nicht sinnvoll. Also es ist in der jetzigen Anfangsphase natürlich total zu unterstützen, die Verbreitung zu verlangsamen. Also ein Virus wird eingetragen, es sind die ersten 20 Fälle in einer Stadt und jetzt möchte man, dass das nicht innerhalb von einem Monat komplett über die Bevölkerung herfällt. Da kann man natürlich dann versuchen, durch solche Maßnahmen an den Orten, wo Viren sich nun mal verbreiten – und dazu gehören Schulen, Sportveranstaltungen, Kitas –, durch kurzzeitige, aber auch richtig kommunizierte Maßnahmen so eine Verbreitung deutlich in die Länge zu ziehen, wenn man im Keim des Geschehens das Ganze verlangsamt. Ersticken kann man es nicht, aber man kann es deutlich verlangsamen. Und das kann man später nicht mehr. Dazu haben wir jetzt die Gelegenheit, und wir haben jetzt die Gelegenheit, durch solche Maßnahmen, die die Gesundheitsämter dann jeweils verhängen müssen, bei der Virusverbreitung mehrere Wochen Zeit zu gewinnen und damit in die Sommermonate zu kommen. Das ist ganz wichtig, denn wir können schon annehmen, dass dieses Virus, wie viele andere physikalisch ähnlich aufgebaute Viren – also gehüllte RNA-Viren – labil ist gegen UV-Strahlung, gegen Trockenheit, sodass wir in den Sommermonaten eine ganz natürliche Verlangsamung der Verbreitung bekommen. Wenn wir es jetzt schaffen, das Geschehen, sagen wir mal, bis ins spätere Frühjahr zu verschieben. Dazu sind solche Maßnahmen sehr gut geeignet. Dass man sagt, jetzt werden hier am Ort, weil wir konkret hier am Ort Fälle haben, mal für ein paar Tage die Grundschulen geschlossen. Und dann schauen wir mal weiter, ob wir das noch verlängern wollen. Solche Maßnahmen kann ich im Moment gut nachvollziehen. Aber ganz allgemein gesprochen, kann man die in einer Pandemie nicht lange durchhalten. Und sollte man auch nicht, weil dass die Gesellschaft überstrapaziert und auch eine falsche Wahrnehmung generiert über die Gefährlichkeit für den Einzelnen. Es ist hier einfach immer zu unterscheiden: Gefährlichkeit für die Gesellschaft, für das Medizinsystem, auch für die Wirtschaft übrigens versus Gefährlichkeit für den Einzelnen. Und weil das immer verwechselt oder durcheinander geworfen wird, kommt es dann zu solchen Überreaktionen, die sich in Hysterie und vielleicht auch in Hamsterkäufen zeigen. Oder dass man, wenn man abends mal Gäste hat, über gar nichts anderes mehr redet als über dieses Thema.

Korinna Hennig: Sie haben gesagt, man müsste versuchen, das Ganze zu verlangsamen, sodass erst in ein paar Monaten, wenn es denn mehr werden wird in Deutschland, die Verbreitung sozusagen greift. Das hängt auch mit der Grippe zusammen. Wir haben diesen Grippe-Vergleich oft gehört. Wir haben Grippewelle, die Praxen und die Krankenhäuser haben schon mit der normalen saisonalen Grippe zu tun. Wir haben einen Hörer, der hat geschrieben: Warum machen denn alle so ein Drama um Corona – insbesondere wenn wir bedenken, dass es in diesem Jahr allein schon 130 Grippetote gegeben hat? Können Sie mit der aktuellen Brille für uns mal die Zahlen ins Verhältnis setzen? Ansteckung, Sterblichkeit bei der Grippe und bei SARS-CoV-2?

Christian Drosten: Also der Vergleich mit der saisonalen Grippe hinkt grundsätzlich. Ich weiß nicht, woher die Zahl kommt. Und diese Zahl ist viel zu niedrig. Wir haben bei der saisonalen Grippe die Übersterblichkeit, das ist ein anderer Messwert, ein anderer epidemiologischer Parameter, als die Fallsterblichkeit bei einer Pandemie. Die Übersterblichkeit bei Influenza wird so erhoben, dass man sagt – mal jetzt ganz vereinfacht – Grippesaison ist zwischen Weihnachten und Karneval, und in der Zeit zählt man die Todesfälle in der Bevölkerung. Und dann zählt man in den anderen Monaten des Jahres die Todesfälle. Dann vergleicht man die Zahlen, und das, was da an mehr Todesfällen in der Grippesaison auftritt, das schreibt man der Influenza zu. Das ist natürlich eine ganz grobe Schätzung, die tatsächlich erfahrungsgemäß mit der Schwere einer Grippewelle korreliert. Aber das sind nicht jeweils die an Grippe gestorbenen Personen, sondern da hat die Grippe häufig etwas angestoßen, was vorher schon als Grunderkrankung stark da war. Und es sind auch nicht immer wirklich nur Grippeinfektionen, da sind eben auch andere Erkältungsviren dabei. Das ist also eine ganz grobe Maßzahl.

Man kann es nicht mit der saisonalen Grippe vergleichen

Jetzt zu sagen, ich setze die 15.000 oder 20.000 Personen Übersterblichkeit – das ist übrigens die Zahl, es geht nicht um 130! In Grippesaisons fängt das an bei 8.000 oder 10.000 Fällen – und es kann in einer schweren Saison mal bis zu 30.000 Fällen gehen. Das ist aber Übersterblichkeit. Da kann man nicht sagen, die sind alle an der Influenza gestorben.

Demgegenüber kann man jetzt nicht sagen, jetzt rechnen wir für eine Pandemie – sowohl für eine Grippepandemie wie auch jetzt für so ein ganz neues Virus. Bei pandemischen Viren reden wir von Fallsterblichkeit, und das können wir deswegen, weil erst mal der Begriff „Fall“ klären ist. Also wir können sagen, es gibt eine Fall-Definition und wir registrieren einen Fall und wir zählen die Fälle. Und dann zählen wir, wie viele von diesen Fällen am Ende gestorben sind. Und wenn wir das präzise erheben, dann haben wir einen präzisen Messwert der Fallsterblichkeit. Und der wird immer präziser, je mehr man testet und je weitere Bevölkerungskreise man testet. Jetzt ist es hier bei dieser Erkrankung so, dass die Fallsterblichkeit weiterhin so ein Diskussionsgegenstand ist unter Wissenschaftlern. Wir kommen aber doch langsam in einen Bereich, bei dem wir bessere Zahlen kriegen.

Fallsterblichkeit noch nicht messbar

Die Fallsterblichkeit wird einfach zwangsweise am Anfang einer Pandemie verschätzt – und zwar überschätzt. Das liegt daran, dass verstorbene Personen auffallen und mild Erkrankte nicht auffallen, und natürlicherweise ist es deswegen gerade am Anfang von solchen Epidemien so, dass man alle Verstorbenen zählt, aber längst nicht alle Fälle. Das heißt, der Nenner ist zu klein. Im Zähler stehen die Verstorbenen, im Nenner stehen die insgesamt Infizierten – und deswegen kommt dabei ein zu hoher Wert raus. Und wenn man dann praktisch alle testen würde, dann würde man sehen, der Nenner in diesem Fall, der wird immer größer.

In Wuhan, da war es so, als es los ging, dass natürlich erstmal nur die Todesfälle aufgefallen sind, da hätte man also praktisch eine vollkommene Fallsterblichkeit. Jeder, der infiziert ist, stirbt. Dann hat man gemerkt: Aha, da sind auch milde Fälle. Dann hat man eine Situation gehabt, dass das System ziemlich überfordert ist und Patienten nur dann zur Testung und ins Krankenhaus gegangen sind, wenn sie wirklich schwer krank waren. Und wer schon schwer krank ist, hat natürlich ein höheres Risiko, dann auch zu sterben. Darum sah es am Anfang so aus, als wären es 10 Prozent. Und nach einer kurzen Zeit waren es dann in Wuhan so um die zwei, drei Prozent. Jetzt sagt die WHO, in China außerhalb von Wuhan liegt die Fallsterblichkeit so irgendwo bei 0,7 Prozent, weil sich da das Ganze schon mehr verteilt und man Fälle aktiver suchen muss, um sie dann zu erkennen. Und längst nicht jeder von denen ist ein schwerer Fall. Und wenn wir dann aufzeichnen, was außerhalb von China passiert – wenn wir also dort die Fälle zusammenrechnen, wo man ja weiß, das sind immer Verschleppungen, die von den jeweiligen Gesundheitsbehörden immer ernst genommen und verfolgt werden. Da haben wir ja zum Teil eben sehr gute Medizinsysteme wie Singapur, auch Südkorea, USA und Europa, wo wir dann wirklich zählen können. Dann kommen wir auf Werte im Bereich von 0,1 bis 0,5 Prozent.

Vorsicht vor voreiligen Berechnungen

Ich will jetzt mal sagen, wir können so von etwas unter einem halben Prozent Fallsterblichkeit ausgehen. Das ist dann aber wirklich irgendwann auch ein Multiplikator, den man anwenden kann. Also dann könnte man fragen: Okay, wenn wir jetzt diesen Wert haben, was hieße das denn dann für Deutschland? Was hieße das für meine Stadt? Und dann kann man anfangen zu rechnen. Und dann, wenn man anfängt zu rechnen, dann errechnet man sich erst mal ganz erschreckende Zahlen. Die will ich jetzt nicht hier nennen, denn die sind falsch. Es wird dann wieder noch komplizierter, vielleicht müssen wir da morgen oder übermorgen nochmal drüber reden, aber es ist so, dass eben nicht jeder in der Bevölkerung infiziert wird. Da gibt es noch andere epidemiologische Termini und Parameter dafür, mit denen man auch abschätzen kann, wie viele infiziert werden und wie schnell sich das Ganze verbreitet. Denn auch die Verbreitungsgeschwindigkeit ist ganz erheblich wichtig. Wenn Sie sich vorstellen, ein Drittel der Bevölkerung wird infiziert, dann ist es natürlich immer noch ein riesiger Unterschied, ob die alle in diesem Monat infiziert werden oder ob sich das über zwei Jahre hinschleppt.

Korinna Hennig: Dann wollen wir über all das doch morgen reden, Herr Drosten, und Sie zwischendurch jetzt auch mal wieder Ihre eigentliche Arbeit machen lassen. Wir sind morgen wieder mit Ihnen verabredet zu unserem täglichen Coronavirus-Update; wir haben gemerkt, es gibt noch viele Fragen zu klären. Ich sage Ihnen für heute vielen Dank!

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Ein Pflaster klebt auf dem Arm einer jungen Frau. © Colourbox Foto: Csaba Deli

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NDR Info | Das Coronavirus-Update von NDR Info | 26.02.2020 | 12:03 Uhr

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