Nach Vorwürfen gegen Annie Ernaux: "Ich sehe keine Antisemitin"
Die frisch gekürte französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux hat laut "Jerusalem Post" mehrere Briefe und Petitionen unterstützt, die zum Boykott Israels aufrufen. Unter anderem habe sie einen Brief unterzeichnet, der zum Boykott des ESC 2019 in Tel Aviv aufrief.
Ein Gespräch mit Jürgen Ritte, Professor für deutsche Literatur und interkulturelle Studien an der Sorbonne in Paris.
Herr Ritte, wie schätzen Sie die politische Haltung von Annie Ernaux ein?
Jürgen Ritte: Die politische Haltung von Annie Ernaux ist seit vielen Jahren bekannt. Sie hat sich immer zur extremen Linken bekannt. Sie hat bei den letzten Präsidentschaftswahlen dazu aufgerufen, Jean-Luc Mélenchon zu wählen, der ein Kandidat ist, der es eher mit einem Hugo Chávez hielt oder Nicolás Maduro, der viel Verständnis für Putin hat und sehr wenig von Europa hält. Sie hat auch andere Dummheiten der extremen Linken mitgetragen: beispielsweise den Boykottaufruf gegenüber Israel zu unterzeichnen, beispielsweise zum Boykott des European Song Contest in Israel aufzurufen, und Israel - was ich für einigermaßen infam halte - als Apartheidsstaat zu bezeichnen. All das ist bekannt und in Frankreich noch einmal genannt worden in den ersten Würdigungen ihres Werkes nach Bekanntgabe der Verleihung des Nobelpreises. Wir können daraus eigentlich nur schließen, dass sie eine Autorin ist, die viele Leser und Leserinnen hat, die vielen etwas sagt, die auch keine schlechte Autorin ist, für meine Begriffe zumindest, aber dass ein guter Schriftsteller nicht unbedingt ein politisch kluger Schriftsteller ist. Intellektuelle irren sich - das ist gerade in Frankreich häufiger vorgekommen.
BDS ist eine Organisation, die Israel kulturell und politisch isolieren möchte. In Deutschland hat der Bundestag beschlossen, dass das eine antisemitische Organisation ist. Wie ist das in Frankreich, würde man das da auch so einschätzen?
Ritte: Offiziell tut man das nicht. Das ist aber eine Frage dessen, was politisch opportun ist. In der Debatte tut man das sehr wohl. Es hat anlässlich des letzten Aufrufs eine Debatte in der französischen Presse gegeben, an der sich Bernard-Henri Lévy und auf der Gegenseite Michel Onfray beteiligt haben. Michel Onfray ist jemand, den man nicht unbedingt auf dieser Seite vermutet hätte. Beide haben gesagt, das sei kaschierter, schlecht sublimierter Antisemitismus. Michel Onfray hat es dann auf die Formel gebracht: Die Synagoge brennt, und wir schauen weg.
Was sind das für Figuren? Welche Rolle spielen die in der Debatte?
Ritte: Bernard-Henri Lévy spielt seit vielen Jahren eine große Rolle in den intellektuellen Debatten Frankreichs. Er vertritt auch Interessen Israels, sofern das Existenzrecht Israels nicht anerkannt ist. Ich glaube, dieses Interesse sollten wir alle vertreten. Und Michel Onfray ist jemand, der dadurch berühmt geworden ist, dass er aus eigenen Mitteln eine "Université populaire" gegründet hat, also eine Art Volksuniversität und sich oft auch auf die Seiten der Gelbwesten geschlagen hat, also auf einer Seite war, auf der er sich mit Annie Ernaux treffen konnte - aber sich an diesem Punkt doch sehr deutlich auch von ihr distanzierte.
Wie schätzen Sie die Arbeit des Nobelkomitees ein, das sagen wird, man beschränke sich auf das Werk der Künstlerin. Wie weit muss man das politische Umfeld und die politische Meinungsäußerung ausleuchten?
Ritte: Da wird es sehr kompliziert. Wir hatten ja auch einen deutschsprachigen Nobelpreisträger: Peter Handke, der an das Grab von Herrn Milošević geeilt ist und aus seinen Haltungen im Balkankrieg keinen Hehl gemacht hat. Ich glaube, es wird sehr schwierig, wenn wir Künstler auf den moralischen Prüfstand stellen. Ich denke, Annie Ernaux hat einige Dummheiten begannen, sie hat vielleicht nicht abgesehen - das ist vielleicht Mangel an Klugheit -, was sie tut, wenn sie solche Aufrufe unterschreibt. Aber ich sehe in ihr keine Antisemitin.
Glauben Sie, dass Annie Ernaux reagieren wird oder dass sie sich bei der Verleihung zu dem Thema äußert?
Ritte: Das ist möglich. Sie wird eine Platte auflegen, die sie immer wieder auflegt und die für mich ein bisschen zweifelhaft ist. Annie Ernaux' Geschäftsgrundlage ist ja das immer wieder Schreiben über ihre einfache Herkunft. Das tun andere Franzosen auch, die damit in Deutschland viel Erfolg haben. Ich halte das für etwas zweifelhaft. Immerhin verdanken Annie Ernaux und einige andere dieser so verhassten westlichen Gesellschaft doch einen Aufstieg, den sie unzweifelhaft geschafft haben. Ich glaube, in Westeuropa sind wir alle eine Aufsteigergeneration, das hat die Geschichte so mit sich gebracht. Vielleicht geht sie darauf noch einmal ein und vielleicht nimmt sie zu den Vorwürfen Stellung. Aber von Frankreich aus gesehen ist das gar kein Thema, und ich weiß nicht, inwiefern die Aufregung in Deutschland bei ihr ankommt.
Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.