Hanno Rauterberg © imago/Sven Simon Foto: Sven Simon
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AUDIO: Warum gute Absichten nicht Sinn und Zweck der Kunst sind (11 Min)

Warum gute Absichten nicht Sinn und Zweck der Kunst sind

Stand: 01.10.2022 08:40 Uhr

von Hanno Rauterberg

Die Kunst wird abhängig

Wie es dazu kommt? Es liegt daran, dass sich die neuen Milden, die sozialpolitisch engagierten Künstlerinnen und Künstler, bestenfalls am Rande für ihre Freiheit, nicht für ihre Autonomie interessieren. Ihre Kunst soll nicht aus sich heraus wertvoll sein, sondern ihren Wert in der gesellschaftlichen Wirklichkeit erwirtschaften. Das heißt: Sie machen sich abhängig. Sie setzen sich ein klar definiertes Ziel - etwa die Unterstützung von Obdachlosen oder die Aufforstung einer Stadtbrache -, also werden sie auch daran gemessen, ob sie dieses Ziel erreichen. Sie gehorchen einer Leistungslogik, das einer freien Kunst fremd sein muss.

Übersicht
Eine Reihe von Uhren steht in einem leeren Fabrikgebäude. Eine zeigerlose Uhr ist frontal zu sehen. © Roberto Agagliate / photocase.de Foto: Roberto Agagliate

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Eine freie Kunst versteht sich als Spiel, das eigenen Regeln folgt, ohne Auftrag, gelöst von allen Sinn- und Wertezwängen. Nun aber wird die freie Kunst unfrei, von zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern verzweckt. Mit der Folge, dass nun manchmal geradezu von ihr erwartet wird, sie solle dem Gemeinwohl dienen. In den USA zum Beispiel wies die Bundeskunststiftung, das National Endowment for the Arts, stolz darauf hin, dass die Kunst längst nicht mehr nur auf dem symbolischen Terrain agiere. Etliche Künstler nähmen sich gefährdeter Jugendlicher an, kümmerten sich um Verbrechensvorbeugung, arbeiteten mit Analphabeten, Aids-Kranken oder Obdachlosen. In Großbritannien wird die Kunstförderung bereits auf ihre kompensatorische Wirkung hin geprüft: Wird die Kunst auch sozial wirksam, in Selbsthilfegruppen oder Umweltprojekten?

Man sieht schon: Die Kunst wird abhängig, ihre Freiheit zählt nicht mehr wirklich. Was zählt, sind ihre sozioökonomischen Erfolge. Und bleiben die aus, gibt es kein Geld. So beraubt sich eine auf Harmonie und Heilung bedachte Kunst auf mittlere Sicht ihrer eigenen Spielräume. Sie will vereinnahmt werden, und sie wird vereinnahmt. Und im Zweifel vom Bundespräsidenten zurechtgewiesen, wenn sie doch mal querschießt und nicht so wohlgesinnt auftritt, wie viele es unterdessen von ihr erwarten.

Kunst braucht Autonomie

Heißt das nun, die Kunst muss sich beschränken? Soll sich nicht länger einmischen, sich vielmehr zurückziehen aus der politischen, sozialen Arbeit?

Wenn es den Künstlerinnen und Künstlern tatsächlich nur darum geht, auf aktivistische Weise die Welt besser zu machen, für das Gute zu streiten und alle Ambivalenzen auszublenden, dann stellt sich für mich schon die Frage, warum sie nicht einer NGO oder einer Partei beitreten oder eine Bürgerinitiative gründen. Warum müssen sie ihrer Arbeit, die ja unbedingt wertvoll sein kann, zusätzlich noch das große Wort Kunst überstülpen? Nur weil es so verheißungsvoll funkelt?

Doch heißt das für mich im Umkehrschluss keineswegs, dass sich Künstlerinnen und Künstler nun aus allen weltlichen Dingen heraushalten sollten. Ja, Kunst kann politisch sein. Sie war es, wenn man genauer hinschaut, auch immer schon. Nur eben auf eine andere, eine eher verwickelte Weise. Sie ist nicht dadurch politisch, dass sie politische Botschaften unters Volk bringt; das kann die Werbung ja ohnehin viel besser. Sie ist es, indem sie uns, dem Publikum, einen Freiraum öffnet. Einen Raum, in dem wir die Dinge, auch die verzwickten, gelöster betrachten können, in dem wir neu nachdenken, auch das Abgründige mancher Fragen offen in den Blick nehmen. Es können Momente der Reflexion sein, auch des Erschreckens, der Hilf-, der Ratlosigkeit, nicht aber der Belehrung oder Bekehrung. Kunst ist keine Realpolitik, sie ist Irrealpolitik, in ihr gehen wir auf Abstand, zu uns selbst und zur Welt. Und gerade deswegen kann die Kunst eine politische Funktion besitzen: weil sie uns der üblichen Zwänge enthebt und - hoffentlich - wieder freier sehen lässt.

Dafür aber braucht es unbedingt die Autonomie, dafür braucht es die Freiheit der Kunst. Nur wenn sie auf Abstand bleibt, kann sie uns Abstand gewähren. Sie hingegen einem kalten Nutzwertdenken zu opfern, das Museum in eine Sozial- und Hilfsstation zu verwandeln, führt nirgendwohin. Nur in die Verzweckung der Kunst und damit früher oder später in ihre Selbstabschaffung.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 01.10.2022 | 13:05 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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