Stand: 16.12.2022 06:00 Uhr

Videokunst des Italieners Yuri Ancarani im Kunstverein Hannover

von Agnes Bührig

Yuri Ancaranis Arbeiten sind im Kunstmuseum genauso zu Hause wie auf Filmfestivals. Der Kunstverein Hannover zeigt die erste umfangreiche Einzelausstellung des Italieners in Deutschland. Parallel laufen sein Filme im Kommunalen Kino.

Ein weites, hellblaues Gebirgsmassiv, im Vordergrund Mensch und Maschine an einer Abbruchkante. Mit sparsamen Anweisungen dirigiert ein Mann in kurzer Hose - der Oberkörper frei - einen grazil wirkenden Baggerarm. Block für Block schneidet er Marmor aus dem Carrara-Steinbruch.

Es ist ein Spiel mit den Erwartungen: In "Il Capo" von 2010 stellt Yuri Ancarani das Klischee des lauten, hart arbeitenden Bauarbeiters durch eine sensible Dirigentenfigur in Frage. "In vielen Arbeiten sieht man, dass Yuri Ancarani an das Abseitige heranführt", sagt Christoph Platz-Gallus, der die Ausstellung mit dem Künstler kuratiert hat. "Er gibt Einblicke in Situationen, die für uns nicht zugänglich sind. In vielen seiner Arbeiten lockt er uns wie durch einen Türspalt in ein voluminöses Bild."

Der Roboter als Chirurg, Erinnerungskultur im Video-Triptychon

In "Da Vinci" von 2012 ist es die Welt der Roboterchirurgie. Einen minimalinvasiven Eingriff per Joystick unterlegt Yuri Ancarani mit mal sphärischen, dann mit explosiven Geräuschen. Ab und zu schiebt sich eine Computeranimation ins Bild, die den Eingriff auf einer Abstraktionsebene zeigt. Die Arbeit "Lapidi", die 2018 für die Manifesta 12 in Palermo entstand, erinnert an die Toten, die sich der Mafia entgegenstellten. In Italien stehen ihre Namen auf Gedenksteinen.

Für die Ausstellung in Hannover wurden Videos, die sie zeigen, neu platziert: Drei hochformatige Bildschirme stehen da nebeneinander und lassen an ein Triptychon in einer Kathedrale denken.

20 Arbeiten aus zwei Jahrzenten von Yuri Ancari in Hannover

Rund 20 Arbeiten aus zwei Jahrzehnten des 1972 in Ravenna geborenen Künstlers werden gezeigt. Sie sind jeweils nicht länger als eine knappe Viertelstunde und verteilen sich luftig gehängt über die acht Ausstellungsräume. Christoph Platz-Gallus, der die Leitung des Kunstvereins Hannover erst vor wenigen Monaten übernommen hat, war es wichtig, das Konzept des Rundgangs wiederherzustellen. Dafür machte er den Vermittlungsraum, in dem früher Bücher zur Ausstellung und Möbel zum Verweilen aufgestellt waren, wieder zum Ausstellungsraum: "Die alte Logik des Rundgangs finde ich wichtig, weil man dann Geschichten besser erzählen kann. Die Entwicklung der Narrative eines Werkes lassen sich besser zeigen und einen Start- und Endpunkt setzen."

Kinder inhaftierter Eltern flüchten in eine Märchenwelt

Bei Yuri Ancarani ist der Endpunkt eine Arbeit, die stark anrührt. Erstmals im Ausstellungskontext wird "San Vittore" von 2018 gezeigt. Im Video stehen Kinder im Mittelpunkt, deren Eltern im Gefängnis sind. Man sieht sie von hinten, wie sie von Sicherheitspersonal abgetastet und durchleuchtet werden. Sie laufen an der Hand von Wächtern durch lange Gänge, dazu ist das Aneinanderschlagen von Metall zu hören: Ist es der Schlüsselbund, sind es Handschellen? Was macht das mit einem jungen Menschen, wenn ihm ständig das Misstrauen entgegengebracht wird, er verberge etwas? Dazwischen sind Bilder der Kinder zu sehen, die in der Kunsttherapie entstanden sind. Das Gefängnis mit den hohen Burgmauern malen sie als Schloss, vermischen die Realität und Märchenerzählung.

Mit seinen Videos hinterfragt Yuri Ancarani scheinbar eindeutige Narrative. Wie ein Dokumentarfilmer recherchiert er Phänomene, die er dann in hochästhetischen Bildern einfängt. Das hat immer auch den Anspruch des Politischen, etwa, wenn er in "The Challenge" von 2016 die dekadenten Hobbies wohlhabender Männer Katars zeigt. Mal kutschieren sie ihren zahmen Gepard im Lamborghini durch die Wüste, dann wieder sieht man sie bei patriarchalen Spielen wie der Falkenjagd. Eine spannende Ausstellung, die nicht zuletzt durch ihre Weitläufigkeit und die zum Teil fast geometrische Hängung der Videobildschirme besticht.  

Das Kommunale Kino Hannover präsentiert Filme des Videokünstlers und Filmemachers. Die nächste Kinovorführung ist am 17. Dezember ab 18 Uhr: "Atlantide"Yuri Ancarani, Italien/Frankreich/Qatar 2021, 104 Minuten, (deutsche Untertitel, Italienisch im Orignal).

 

 

Videokunst des Italieners Yuri Ancarani im Kunstverein Hannover

Der Kunstverein Hannover präsentiert die erste umfangreiche Einzelausstellung des italienischen Filmemachers und Videokünstlers in Deutschland.

Art:
Ausstellung
Datum:
Ende:
Ort:
Kunstverein Hannover
Sophienstraße 2
30159 Hannover
Telefon:
(0511) 16 84 38 75
Preis:
Erwachsene 7 Euro / ermäßigt 4 Euro / Jugendliche bis 18 frei
Öffnungszeiten:
Dienstag 10.00 - 20.00 Uhr
Mittwoch - Sonntag 10.00 - 18.00 Uhr
montags geschlossen
Hinweis:

(0511) 16 99 27 80
In meinen Kalender eintragen

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 16.12.2022 | 06:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Museen

Ausstellungen

Eine Frau sitzt auf einem Stuhl und lächelt in die Kamera. Neben ihr stehen die Worte "Die Hauda & die Kunst" © NDR/ Flow

Kunstwissen to go - serviert von Bianca Hauda

Bianca Hauda serviert Kunstwissen in kleinen Happen: Porträts von Künstler*innen, deren Bilder und Werke in deutschen Museen zu sehen sind. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Edith Löhle © Philip Nürnberger

Die Bibel neu gelesen: "Die männliche Dreifaltigkeit gibt es da nicht"

Im Interview erzählt die Journalistin Edith Löhle über ihren Debütroman, in dem sie den Frauen ein Denkmal setzt, die in der Bibel kaum eine oder keine Rolle spielen. mehr