Zelt mit der Aufschrift "Aboriginal Embassy" auf der documenta © picture alliance/dpa | Swen Pförtner

documenta: Endspurt für die Weltkunstausstellung

Stand: 18.08.2022 16:36 Uhr

Der Antisemitismus-Skandal ist ein Desaster für die Weltkunstausstellung. Doch besser als Fernbleiben ist es, sich selbst ein Bild von der Kunst zu machen. Noch ist das bis zum 25. September möglich.

von Jonas Kühlberg

Zur Halbzeit der Documenta haben die Veranstalter eine erste Bilanz gezogen: 410.000 Besucher sind nach Kassel gekommen, etwas weniger als zur gleichen Zeit bei der documenta vor fünf Jahren. Das ist trotzdem viel, wenn man sich vor Augen führt, welcher Schaden für die Weltkunstausstellung in der ersten Halbzeit entstanden ist.

Die antisemitischen Motive auf dem Banner "People's Justice" des Kollektivs Taring Padi haben auch die Kunst anderer in den Schatten gestellt. Jene Künstler, die mit diesem Skandal gar nichts zu tun haben. Auf der documenta gibt es nämlich trotzdem einige Entdeckungen zu machen.

Kunst aus Altkleidern und Elektroschrott auf der documenta

Da ist zum Beispiel die Multimedia-Installation des kenianischen Künstlerkollektivs "The Nest Collective" vor der Orangerie. Dort gleicht ein Teil der großen Karlswiese in Kassel einer Müllhalde. Die Künstler haben für ihr Werk "Return to Sender" riesige Pakete aus Altkleidern aufgetürmt, dazwischen Plastikmüll und Elektroschrott, fein säuberlich sortiert nach unterschiedlichen Farben.

Kleidung aus Industrienationen, die eigentlich gespendet wird und Gutes bewirken soll, ist häufig unbrauchbar und landet trotzdem oft in den Entwicklungsländern. "Mitumba" heißen diese Altkleiderspenden, was auf Suaheli soviel heißt wie "Bündel" oder "Ballen".

Jene Kleidungsstücke, die doch gebrauchsfähig sind, verhindern jedoch den Aufbau einer heimischen Textilindustrie, sagen Globalisierungskritiker, aber auch Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace. Dieses Zurschaustellen verstört und gibt einen Eindruck von den Umweltauswirkungen im globalen Süden, die wir im industrialisierten Norden mit unseren Abfällen anrichten. Wer mehr darüber erfahren will, kann sich als Begleitstück einen sehenswerten Film anschauen, der anhand von regionalen Experten den ganzen ökonomischen und ökologischen Irrsinn entwirrt und einem die Augen öffnet.

Essen als Teil diskursiver Kunst

Ein Stückchen weiter im Vorgarten der documenta-Halle befindet sich eine selbst ernannte Social Kitchen, gebaut aus Bambus. "Pak Ghor" ist in Bangladesch die Wohnküche der Familie. Ein Raum, in dem man zusammen speist, sich austauscht und Geschichten erzählt. Dazu ein Gemüsegarten, in dem die Künstler selbst kochen.

Jeden Tag wird eine andere Esskultur vorgestellt und dem hungrigen Publikum präsentiert. Das Künstlerkollektiv "Britto Arts Trust" aus Bangladesch sieht Essen und Kochen als Teil sozialer Praxis und somit diskursiver Kunst. Das kommt tatsächlich an in Kassel. Zwischen den Bambus-Pavillons kommen Künstler und Besucherinnen ins Gespräch, tauschen sich über kulinarische Eigenheiten der regionalen Küche aus und verschnaufen für einen Moment in der Sommerhitze.

Erweitert wird die Idee wiederum in der documenta-Halle drinnen. Hier hat "Britto Arts Trust" einen Basar aufgebaut. Dort ausgestellt: Lebensmittel aus Keramik oder Metall, die in Workshops in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs, in ihrem gemeinnützigen Zentrum für zeitgenössische Kunst hergestellt wurden.

Es geht um die Kommerzialisierung von Lebensmitteln und welche Folgen das auslöst: Gemüse, das durch Pestizide zur Waffe wird, Fische, die Plastik fressen, und dass "Bio" nicht immer drin ist, obwohl es draufsteht und so vermarktet wird. Dabei wirft "Britto Arts Trust" die wichtige Frage auf, wie wir einen natürlichen Umgang mit unserem Essen zurückerlangen können.

Vielfältige Kunst aus den Slums von Nairobi

Kleine Hütten aus Wellblechdächern ohne Zugang zu Wasser, Strom und medizinischer Versorgung - eine Milliarde Menschen leben weltweit in Slums. Ihre Zahl soll sich bis 2030 nahezu verdoppeln, schätzt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Wie kann in solchen Armutsvierteln Kunst und Kultur entstehen? Mit dem "Wajukuu Art Project" aus Kenia kann man auf Spurensuche gehen. In ihren Kunstinstallationen spiegelt sich die Realität von Lunga-Lunga wider, einer der am dichtesten besiedelten Slums von Nairobi.

Ein Tunnel aus alten verrosteten Wellblechdächern, vor dem Eingang der documenta-Halle, steht an ganz prominenter Stelle. Tritt man als Besucher ein, fühlt es sich stickig, beklemmend und unwohl an. Doch ist der Tunnel erst durchquert, ist man über die kraftvolle Vielfalt der ausgestellten Kunst überrascht.

Plädoyer für das Ausbrechen und für die Freiheit

Da ist zum Beispiel eine Installation von Lawrence (Shabu) Mwangi. Zwei Figuren hängen in einem Käfig von der Decke, unter ihnen ein Spiegel, teilweise bedeckt mit Wüstensand. Es sind zwei Menschen, die unfrei sind und sich selbst dabei ansehen - denen ihre Unfreiheit wohl bewusst sein muss. Ein Plädoyer für das Ausbrechen und für die Freiheit - egal, wo man herkommt, in welche Verhältnisse man hineingeboren wird oder unter welchen ökonomischen Umständen man lebt.

Begleitet wird die Ausstellung von einem Dokumentarfilm, der einen Eindruck vermittelt, mit welcher Leichtigkeit das Künstlerkollektiv in Lunga-Lunga arbeitet. Mit dem Mut zum Kunstmachen soll Kunst an Mädchen und Jungen weitergegeben werden - trotz der unentwegt schwierigen Lebensbedingungen und ständigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

Zensierten Künstlern aus Kuba eine Stimme geben

Ebenfalls in der documenta-Halle findet sich eine Arbeit der kubanischen Künstlerin Tanja Bruguera, die nicht zum ersten Mal auf der documenta ausstellt. Sie hat Gesichter auf Holzstiele gehängt. Wer sich den Gesichtern nähert, bekommt ein unheimliches Gefühl. Die Blicke schauen einen an. Man kann sich ihnen nicht entziehen, ihnen nicht entkommen.

Darüber an der Wand: die Namen der kubanischen Künstlerinnen, die seit 1959 der Zensur zum Opfer gefallen sind. Damit will Tanja Bruguera ein Zeichen setzen und verstummten Künstlern eine Stimme geben. Sie sollen nicht vergessen werden.

Langer Kampf der Aborigines

Bemerkenswert ist auch die Arbeit von Richard Bell, der seit Jahren für die Rechte der Aborigines um Gleichberechtigung kämpft. Zwar existiert diese in Australien seit einer Verfassungsänderung vor 55 Jahren auf dem Papier, im Alltag ist eine Benachteiligung aber immer noch erkennbar.

Aborigines sterben durchschnittlich zehn Jahre früher als ihre weißen Mitbürger. Sowohl Arbeitslosenquote und Kriminalitätsrate ist in der Bevölkerungsgruppe überdurchschnittlich hoch. 2021 sorgte gar eine Studie des australischen Statistikamts (ABS) für Aufsehen, die herausfand, dass Suizid die häufigste Todesursache bei indigenen Teenagern ist.

Richard Bell schafft Begegnungsraum für unterschiedliche Kulturen

Zelt mit der Aufschrift "Aboriginal Embassy" auf der documenta © picture alliance/dpa | Swen Pförtner
Die "Aboriginal Embassy".

Im Fridericianum hat Richard Bell seine charakteristischen bunten, knalligen Gemälde ausgestellt. Darauf zu sehen sind seine deutlichen Botschaften über den langen Kampf gegen den australischen Kolonialismus: Menschen auf Demonstrationen, die Transparente in den Händen halten wie "We want land rights" - eine Forderung, die auf den langen Kampf der Aborigines um Landrechte anspielt.
Auf dem Friedrichsplatz findet sich zudem eine "Aboriginal Tent Embassy" - ein Zelt, mit dem Bell schon um die halbe Welt getourt ist und nach der documenta im nächsten Jahr in die Tate Modern nach London weiterziehen soll.

Für Bell fungiert es als Begegnungsraum für unterschiedliche Kulturen. Vor dem Zelt steht auch ein politisches Plakat, das man schon von seinen Bildern schon kennt: "If you can't let me live Aboriginal - why preach democracy?" Bell hat Künstlerinnen und Aktivisten eingeladen, mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen, um gegen Diskriminierung anzuarbeiten, auf Basis dessen, dass man sich in seiner Andersartigkeit akzeptiert.

Protest als Kunst in Indonesien

Kunst und Aktivismus - diese Grenzen verschwimmen auf der documenta. Nicht zuletzt beim umstrittenen Künstlerkollektiv Taring Padi. Von dem inzwischen abgehängten Banner "People's Justice" mit den eindeutig antisemitischen Motiven, das auf dem Friedrichsplatz unweit von Richard Bells Zelt hing, lässt sich beim Besuch Ende Juli nichts mehr erahnen. Taring Padi ist weiterhin prominent auf der documenta, hat im Kasseler Osten ein eigenes Haus, das Hallenbad Ost, für seine Kunst erhalten.

Vor dem Eingang stehen auf Holzstelen aufgestellt unzählige Pappfiguren in grellen Farben, mit großen Köpfen und Augen. "Suara Perempuan" steht auf einem, was auf die Frauenrechte in Indonesien aufmerksam machen soll, oder eine Figur, die kämpferisch eine große LGBT-Fahne in der Hand hält. Die Anspielungen an die Protestkultur Taring Padis sind somit schon vor dem Betreten des Hauses unübersehbar. Auf einem documenta-Flyer steht dann auch: Taring Padi wolle auf der documenta vor allem "organisieren, bilden und agitieren".

Symbole für Macht, Geld und Ausbeutung

Auch drinnen finden sich viele Plakatmotive, die das Kollektiv bei politischen Aktionen einsetzt - ursprünglich auch gegen den korrupten Militärdiktator Suharto, der Indonesien bis 1998 regierte und dem vorgeworfen wird, für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein.

Riesengroße Bilder - immer wieder sind dort Schweinsköpfe als Motiv zu sehen, blutrünstige Karikaturen, die sich mit Gier den Kapitalismus zunutze machen wollen, womöglich als Symbole für Macht, Geld und Ausbeutung. Gerne würde man hier tatsächlich mit dem Aktivistenkollektiv in den Austausch treten, das ein oder andere mit ihnen gemeinsam hinterfragen, doch an jenem Tag ist niemand zugegen. Nur wenige Besucher sind hier.

Eigentlich der richtige Ort

Draußen vor dem Hallenbad unterhält sich das Publikum über das heiße Wetter, ein Pärchen ärgert sich über die teure Bratwurst am Stand. Ob Taring Padi hier auch ihre Bratwurst essen würden? Von "lumbung", dem Motto der documenta fifteen, ist zumindest hier wenig zu spüren. Denn genau damit war das Kuratorium der diesjährigen documenta, die Gruppe "ruangrupa" aus Jakarta, ja angetreten. Die Weltkunstausstellung sollte diesmal kollektiver und solidarischer sein - die Perspektive des globalen Südens stärker in den Blick genommen werden. Die immer noch zu starke eurozentristische Kunstszene sollte für 100 Tage von Kassel aus einmal ordentlich durchgelüftet werden.

Der Mut der Künstler, die häufig aus unfreien Staaten kommen, Dinge ansprechen, über die sie in ihren Heimatländern nicht sprechen können, ist bemerkenswert und man wünscht ihnen die große Bühne. Die documenta ist dafür eigentlich der richtige Ort.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassikboulevard | 20.08.2022 | 14:20 Uhr

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