Auf einem Tisch liegt eine rote Broschüre des "Archives des luttes des femmes en Algérie" © picture alliance/dpa | Uwe Zucchi

Umstrittene Broschüre auf der documenta: "Das ist Antisemitismus"

Stand: 28.07.2022 19:10 Uhr

Erneut wurden antisemitische Zeichnungen auf der documenta in Kassel entdeckt, diesmal in einer Broschüre aus dem Jahr 1988.

Die Broschüre wird von einer algerischen Fraueninitiative ausgestellt und wurde damals von dem syrischen Künstler Burhan Karkoutly gezeichnet. Seit Monaten gibt es immer wieder Antisemitismus-Vorwürfe gegen die documenta, zuletzt aufgrund eines Kunstwerks des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi.

Stephan Grigat ist Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Aachen. Herr Grigat, was ist aus Ihrer Sicht an diesen neuen Zeichnungen antisemitisch?

Stephan Grigat: Wenn Sie die aktuellen, neu aufgetauchten Bilder meinen, die unter anderem nun von der Werte-Initiative publiziert wurden, stechen eine ganze Reihe von Punkten ins Auge. Zum einen gibt es auf diesen Bildern ganz klar Rückgriffe auf antisemitische Klischees. Auf einem dieser Bilder sieht man eine quasi holde, blonde Maid, die eben nicht einfach nur einen israelischen Soldaten attackiert, sondern die einem hakennasige, jüdischen Soldaten in die Genitalien tritt.

Zum Zweiten haben wir nicht nur in diesen aktuellen Bildern, sondern auch in den vorangegangenen Exponaten, die zurecht kritisiert und thematisiert wurden, eine Gegenüberstellung von so etwas wie einer unschuldigen, naturverbundenen autochthonen Bevölkerung auf der einen Seite und eines unmenschlichen, geradezu roboterhaften Aggressors. Oder allgemeiner gesprochen: Wir haben die Identifizierung der Palästinenser und der arabischen Seite mit einem positiven Konkreten versus einer jüdischen Militärmaschinerie. Und diese Maschinerie soll die unmenschliche Abstraktion der Moderne verkörpern.

Das ist nicht nur ein Rückgriff auf antisemitische Klischees, sondern das ist tatsächlich der Antisemitismus selber, wie wir ihn auch schon in dem Wandgemälde gesehen haben. Dazu kommt noch, dass Schuld und Unschuld in diesen Bildern doch sehr eindeutig verteilt sind und dann auch noch sexualisiert wird, was ebenfalls bei den früheren Exponaten schon der Fall war. Auf einem der aktuellen Bilder sieht man eine angedeutete Darstellung einer Vergewaltigung einer arabischen Frau durch jemanden, der mit einem Davidstern markiert ist.

Der dritte Punkt, den man vielleicht noch erwähnen sollte, gerade bei den aktuellen Bildern: Es geht natürlich um den Kontext des israelisch-arabischen, oder genauer, des israelisch-palästinensischen Konflikts. Was mich sehr verwundert ist allerdings, dass die aktuelle Leitung der documenta das alleine als Legitimation dafür nimmt zu sagen, daran sei gar nichts Antisemitisches und deswegen solle man diese Bilder auch weiter zeigen. Es geht ja gerade darum, dass es eine antisemitische Sicht auf genau diesen Konflikt gibt und nicht um eine sachliche oder auch ästhetisch-künstlerische Darstellung dessen, worum es dabei geht.

Sie sagen "jüdische Soldaten", sind das keine israelischen Soldaten?

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Ein leeres Stahlgerüst, an dem das Großbanner "People’s Justice" (2002) des indonesischen Kollektivs Taring Padi zu sehen war, steht auf dem Friedrichsplatz. Die documenta fifteen sieht sich mit einem Antisemitismus-Eklat konfrontiert. © picture alliance/dpa | Uwe Zucchi Foto: picture alliance/dpa | Uwe Zucchi

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Grigat: Es sind israelische Soldaten, die mit dem Davidstern gekennzeichnet sind, und israelische Soldaten sind Soldaten des jüdischen Staates. Insofern ist es sehr eindeutig, was die Gegenüberstellung dort bedeutet. Worum es hier geht, ist aber in erster Linie natürlich ein israelbezogener Antisemitismus. Wenn man sich die aktuellen Stellungnahmen von der documenta anschaut, scheint sie auch nach monatelanger Auseinandersetzung genau damit immer noch nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass das Problem heutzutage nicht in erster Linie dieser brachiale, traditionelle Antijudaismus ist, wie man ihn aus früheren Jahrhunderten kennt, sondern unter anderem eben moderne Formen des Antisemitismus, von denen der Israelbezogene eine der maßgeblichen Ausprägungen ist.

In Deutschland gibt es einen gesellschaftlichen Konsens, dass wir das Existenzrecht Israels nicht in Frage stellen. Nun stellen da diverse Gruppen von Künstlerinnen und Künstlern aus dem globalen Süden aus, da ist das anders. Wie gehen wir damit um?

Grigat: Das zeigt ganz deutlich, dass die Formulierung von "dem globalen Süden“, wie sie vor allem von der mittlerweile, und längst überfällig, zurückgetretenen Leiterin der documenta immer wieder angeführt wurde, dass diese homogenisierende Sicht auf den globalen Süden schlicht und einfach falsch ist. Es wurde mal als Verteidigung der eindeutig antisemitischen Kunstwerke kolportiert, dass man das in dem Kontext des globalen Südens verstehen müsse, womit gesagt werden sollte, das sei entweder gar nicht antisemitisch oder entschuldbar. Das halte ich für grundfalsch.

Das ist nicht nur eine falsche Homogenisierung des sogenannten globalen Südens, es ist sogar eine rassistische Homogenisierung, denn es gibt in Afrika, Lateinamerika und Asien ganz unterschiedliche Sichtweisen auf den Konflikt zwischen Israel und großen Teilen der arabischen Welt. Es gibt im Antikolonialismus, der im sogenannten globalen Süden natürlich eine wichtige Rolle spielt, sowohl antisemitische Traditionen, aber eben auch ganz klar Gegenpositionen. Ich erinnere gerne daran, dass Israel in seiner Anfangszeit in den 50er und 60er Jahren sehr enge Beziehungen zu den gerade jungen entkolonialisierten Staaten in Afrika - Ghana und auch andere Länder - hatte und dass der Konflikt mit vielen dieser entkolonialisierten Länder eigentlich erst sehr viel später und sehr stark auf dem Druck der arabischen Länder entstanden ist. Diese Blickweise auf den globalen Süden ist, glaube ich, eines der Hauptprobleme in der aktuellen Debatte. Da bräuchte man eine sehr viel differenziertere und eben nicht so homogenisierende Sicht.

Was sollte die documenta-Leitung jetzt Ihrer Ansicht nach tun?

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Grigat: Ich bin kein Kulturpolitiker und mag da auch ungerne Ratschläge und Tipps geben. Ich glaube, dass das vor allem eine politische Diskussion ist. Wie ich gerade schon gesagt habe, war der Rücktritt der documenta-Leiterin längst überfällig. Ich denke aber, dass es vor allem um politische Verantwortung geht. Die Frage ist ja schon, warum sich der Kasseler Oberbürgermeister dermaßen verteidigend vor die antisemitischen Kunstwerke gestellt hat und es weiterhin tut. Und die Frage ist auch, ob nicht ganz klar die letzte Verantwortung bei der Kulturstaatssekretärin Claudia Roth steht.

Man muss daran erinnern, dass die Kritik an der documenta seit Januar von dem sehr verdienstvollen Bündnis gegen Antisemitismus in Kassel publiziert und formuliert wurde und bis zur Eröffnung der documenta von diversen politischen Stellen, aber leider auch von vielen meiner Kollegen und Kolleginnen in der Antisemitismusforschung, diskreditiert und damit auch ignoriert wurde. Das scheint mir ein Hauptproblem zu sein. Wie die künstlerische Leitung nun weiter vorgeht, da überlasse ich es gerne anderen, Ratschläge zu geben. Politisch bräuchte es aktuell eine Debatte über israelbezogenen Antisemitismus und über die antisemitischen Elemente im Postkolonialismus in vielen Ausprägungen postkolonialer Theorien, weil das dieser ganzen Diskussion letztendlich zugrundeliegt.

Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.

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Dieses Thema im Programm:

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