Mathias Greffrath © picture alliance/dpa Foto: Horst Galuschka
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AUDIO: Unsere Suche nach Perfektion und ihre alltäglichen Perversionen (10 Min)

Unsere Suche nach Perfektion und ihre alltäglichen Perversionen

Stand: 22.10.2022 06:00 Uhr

von Mathias Greffrath

Der Augenblick der Selbstvergesssenheit

"Menschliche Vollkommenheit" denken wir nach wie vor auf der Ebene handwerklicher Werte. Der Soziologie Richard Sennett erhebt die handwerkliche Orientierung gar zur anthropologischen Konstante. Menschen strebten in dem, was sie tun, nach Vollkommenheit. Es sei ein "dauerhaftes menschliche Grundbestreben: der Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen". Und das ist nicht nur das Privileg der Künstler. Das macht der Tischler, der einen fertigen Schrank noch einmal auseinandernimmt, weil eine Fuge nicht passgenau geraten ist - obwohl man die überstehende Kante gar nicht sehen kann. Das macht die Töpferin, die eine hauchdünne Schale noch einmal zum Tonklumpen zusammendrückt, weil ihr die Form um einen Millimeter unsymmetrisch vorkommt; der Koch, der wochenlang mit der Raffinierung eines Kartoffelpürees experimentiert.

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Man muss nicht sehen - so heißt es in einem Gedicht von W.H. Auden - man muss nicht sehen / was jemand gerade tut, /um zu erkennen, ob das seine Berufung ist / Man muss einfach nur seine Augen beobachten: / Ein Koch, der eine Soße komponiert, ein Chirurg, / der den ersten Schnitt ansetzt, / ein Angestellter, der den Frachtbrief ausfüllt. / Sie alle haben den selben Gesichtsausdruck, / selbst vergessen in ihrer Aufgabe. / Wie wunderschön er ist, / ihr Augenblick auf ihren Gegenstand.

Selbstverwirklichung in diesem Sinne: Das ist dieser Augenblick der Selbstvergesssenheit im Vollzug der eigenen Tätigkeit. Psychologen haben ihn als 'flow' bezeichnet. Eine Art ekstatischer Zustand, in dem man vollständig konzentriert ist auf den Gegenstand, den Klang, die Handbewegung, den Gedanken; ein Zustand, in dem die Realität um einen herum so verschwindet, wie es bei spielenden Kindern zu beobachten ist; ein Zustand, in dem keine störenden Gedanken oder Gefühle zwischen mir und meiner Tätigkeit stehen; ein Gefühl von Zeitlosigkeit und Ernst sich einstellt bei einer Tätigkeit, die wie das Spiel getan wird um ihrer selbst willen.

Die Maschine als Erlösung

10.000 Stunden, so sagt es die alte Faustregel, braucht ein Handwerker, um zu seinem Grad an Perfektion zu gelangen. Nun können wir nicht alle Handwerker werden, schon gar nicht Künstler. Vor allem aber: Der romantische Einspruch gegen die Maschinenwelt ist in Gefahr, elitär und unsozial zu werden. Die Maschinen, Wissenschaft und Technik haben - getrieben vom Kapital - die Arbeit der überwiegenden Massen der Menschen erleichtert. Ein Schnitter auf dem Gut, ein Kleinbauer, ein Steinschneider, der Marmorblöcke zersägt, ein Töpfer, der eine Tasse nach der anderen, gleich der anderen dreht, um seine Familie zu ernähren - sie alle haben die Maschine als Erlösung von einem harten Los begrüßt. Und die Maschine hat, indem sie die Mühsal und die Not minderte, überhaupt erst die Möglichkeit geschaffen, dass tendenziell alle Bewohner dieser Maschinenwelt neben dem Apparat, der sie mit den Notwendigen versorgt, in einen anspruchsvollen, erfüllenden, ihre Fähigkeiten erfordernden und steigernden Dialog mit der Wirklichkeit treten könnten.

Wohlstand als Reichtum an Zeit verstehen

Arbeit für alle - nicht im Sinne irgendeiner Beschäftigung: Burger braten, um "Zalando"-Pakete bestellen zu können, oder bei "Amazon" Pakete austragen, um ein Smartphone oder das nächste Lego-Paket oder Verschleißtextilchen zu kaufen, nicht solche Art Beschäftigung, sondern gute Arbeit für alle, weil die Zeit, die wir für das Notwendige aufwenden, dank der Automation schrumpfen kann. Das war das Ziel eines Sozialismus, der sich nicht nur als Konsumentengenossenschaft, sondern als Bildungsbewegung verstand. Angesichts der kommenden Automatisierungswelle, angesichts des Überangebots an Arbeitskräften auf dem globalisierten Markt ist der Gedanke einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung eigentlich mehr als aktuell. Und die ökologischen Zwänge legen eine Gesellschaft nah, in der der Reichtum der Nationen nicht mehr darin besteht, mehr billigere und noch mehr billigere Dinge für weniger und immer weniger Lohn herzustellen, sondern den Wohlstand als Reichtum an Zeit zu verstehen - Zeit, um die Geschicklichkeit unserer Hände, die Sensibilität unserer Ohren, die Raffiniertheit unseres Geschmacks, die Geselligkeit mit den anderen zu steigern, mit unseren Kinder die Geheimnisse der Welt noch einmal zu entdecken, oder einfach: um uns schön zu machen. Eine perfekte Gesellschaft, das wäre eine, die jedem Einzelnen ermöglicht, seinen Grad an Perfektion zu erreichen.

Die Zeit guter Handwerker kostet Geld - so viel Geld, dass heute nur wenige sich die maßgeschneiderte Kleidung, den individuellen Schmuck, die perfekte Sachertorte oder sechs Jahre Klavierunterricht kaufen können. "Gutes Handwerk verlangt nach Sozialismus", schreibt Richard Sennett. Das heißt: Radikale Arbeitszeitverkürzung und eine Bildungsrevolution, die keine Begabung unentwickelt lässt, sodass allmählich im Reich der freien Zeit die Perfektionierung der individuellen Begabungen, Vorlieben oder Obsessionen wachsen kann.

Wie sagte Adam Smith: Der Weg der überwiegenden Menge in eine Existenz von Stumpfsinn und Einfalt werde das Resultat des Aufstiegs von Homo Sapiens sein, "wenn der Staat nichts unternimmt, es zu verhindern". Und wer sich von Stumpfsinn und Einfalt bedroht oder gelangweilt oder angeekelt fühlt, der sollte - wenn er auch nur etwas zur Perfektion des Ganzen und seines eigenen Lebens beitragen will - nicht nur am Wahltag früh aufstehen.

Eine Wiederholung der Sendung vom 23. September 2018

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 22.10.2022 | 13:05 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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