Mathias Greffrath © picture alliance/dpa Foto: Horst Galuschka
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AUDIO: Unsere Suche nach Perfektion und ihre alltäglichen Perversionen (10 Min)

Unsere Suche nach Perfektion und ihre alltäglichen Perversionen

Stand: 22.10.2022 06:00 Uhr

Ein von A bis Z fehlerfreier Vortrag, ein durchweg brillantes Konzert, eine überirdische Schönheit - das Streben nach Perfektion scheint in unserem Leben ein ewiger Begleiter zu sein.

von Mathias Greffrath

Was steckt bloß hinter diesem Meisterschaftstrieb, mit dem wir unserer Existenz Ziel und Sinn verleihen wollen, was unterscheidet künstlerische Höchstleistungen, vor denen wir andachtsvoll mit offenem Mund stehen, von den permanenten Aufforderungen zur Selbststeigerung und Genussmaximierung, mit denen uns die Lebensstil-Industrie belagert?

Buchcover: Yuval Noah Harari - Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen © C. H. Beck Verlag
"Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen" ist im C.H.Beck Verlag erschienen und kostet 24,95 Euro.

Das Buch im weißen Umschlag mit den goldenen Lettern ist ein Bestseller. "Homo Deus", so heißt das Werk des israelischen Historikers Yuval Noah Harari. Die Menschheit - das ist, kurz gesagt, die These des Buches - habe es weit gebracht, mit Werkzeugen, Wissenschaft und Religionen, Hunger, Not, Naturzwänge, Kriege und Gewalt in den Griff bekommen. Die materielle Produktion, ja selbst die der Lebensmittel, sei so gut wie automatisiert. Jedenfalls im Prinzip. Es bleibt also, im Prinzip, nicht mehr viel zu tun. Also werde sich die Menschheit nun daran machen, den Homo Sapiens zu perfektionieren. Zunächst mit elektronischen Sehhilfen, Hörhilfen, Gehhilfen, Informationsbrillen, schließlich mit Chemie und Stimulation von Gehirnzellen werden wir unsere Fähigkeiten und unsere Gesundheit steigern und schließlich den Tod besiegen - oder auf jeden Fall die Sterbegrenze immer weiter rausschieben. Und, da Automaten immer mehr Menschen überflüssig machen, werden wir uns die Welt nicht mehr mit mühevoller Arbeit aneignen müssen, sondern werden viele Welten erleben, ja sogar fühlen können - allerdings zunehmend virtuell.

Eine solche perfekte, reibungslos funktionierende große kapitalistische Weltmaschine, so Hararis These, sei die Konsequenz dessen, was er Humanismus nennt. Die Wissenschaft habe Gott ins Märchenbuch verbannt und im Gegenzug die Werkzeuge entwickelt, um die Welt zu einem Paradies zu machen.

Der perfekte Übermensch

Hararis "Homo Deus" ist die letzte in einer langen Reihe von Perfektionsfantasien. Das beginnt mit den frühchristlichen Ideen vom Neuen Menschen und dem Ende der Geschichte. Das fand seine säkulare Gestalt im Fortschrittsglauben der bürgerlichen Aufklärung. Und die kommunistischen Revolutionäre wollten einen Menschentypus hervorbringen, der, so glaubte es Trotzki, "unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner sein werde". Ja, der "durchschnittliche Menschentyp werde sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethes und Marx' erheben..."

Dieser Übermensch, den auch Harari kommen sieht, dürfte allerdings bis auf weiteres nur in dem Teil der Welt entstehen, der in der angelsächsischen Diktion "WEIRD" heißt, abgekürzt aus 'western', 'educated', 'industrialized', 'rich', 'democratic', zu Deutsch: sonderbare, oder gar übernatürliche Menschen: westlich, geschult, industrialisiert, reich und demokratisch. Und angesichts von Klimawandel, Migration und Globalisierungsfolgen ist es mehr als zweifelhaft, ob das jemals zum Standardprogramm der Menschheit werden wird, oder ob wir nicht auf eine neue Phase blutiger Kriege um Waren, Wasser und Lebenschancen zugehen.

Rückfall statt Steigerung

Vor allem aber: Selbst in Hararis Welt der gottgleichen Menschen wären die Einzelnen nurmehr Mollusken im Innern des globalen Gehäuses aus Plastik, Stahl, Bits, Fleischersatz und Algorithmen. Es wäre keine Steigerung, sondern ein Rückfall hinter den Homo Sapiens.

"Menschliche Vollkommenheit und technische Perfektion sind nicht zu vereinbaren. Wir müssen, wenn wir das eine wollen, das andere zum Opfer bringen", so schrieb es der konservative Ernst Jünger in den "Gläsernen Bienen", dem Roman aus dem Jahr 1957, in dem Mikroroboter durch die Luft fliegen und in großen Petrischalen künstliche Ohren gezüchtet werden.

Und schon der Säulenheilige des Liberalismus und des freien Marktes, Adam Smith, schrieb im 18. Jahrhundert: Mit "fortschreitender Arbeitsteilung verlernt der Mensch, seinen Verstand zu gebrauchen und wird so stumpfsinnig und einfältig, wie ein menschliches Wesen nur werden kann. (...) Solch geistige Trägheit (...) stumpft ihn auch gegenüber differenzierten Empfindungen wie Selbstlosigkeit, Großmut oder Güte ab. (...) Dies ist die Lage, in welche die Schicht der Arbeiter, also die Masse des Volkes, in jeder entwickelten und zivilisierten Gesellschaft unweigerlich gerät." Schreibt Smith. Und dann fügt er hinzu: "Wenn der Staat nichts unternimmt, sie zu verhindern."

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 22.10.2022 | 13:05 Uhr

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