Kinos in Corona-Zeiten: Streaming Killed the Movie Star?
Die Folgen der Corona-Krise für die Filmbranche sind enorm. Die Fördertöpfe sind leer, die Kinos existenzbedroht und der Streit um den Schutz der Kinos vor schneller Online-Auswertung erscheint in einem neuen Licht.
Am nächsten Donnerstag steht eine Weltpremiere auf dem Filmkalender: Erstmals seit ihrer Gründung 1951 wird die Berlinale nicht wie geplant eröffnet. Keine wilden Festivaltage im Februar, kein roter Teppich, keine fröstelnden Stars im winterkalten Berlin, nichts. Rein gar nichts?
Ganz so drastisch wollte das Leitungsduo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek es dann doch nicht und wagt in der Corona-Pandemie ein Experiment: eine zweigeteilte Berlinale. Anfang März wird der Europäische Filmmarkt als reine Online-Veranstaltung angeboten; für den Juni ist ein abgespecktes Publikumsfestival angekündigt. Beim Sommer-Event sollen auch die im März von einer internationalen Jury vergebenen Bären vor Zuschauern verliehen werden.
Ob das funktioniert? Ob sich Arthouse-Filme, in den vergangenen Jahren die Toptitel der Berlinale, auch ohne den Rückenwind einer Festivalöffentlichkeit verkaufen? Wird das Publikum umgekehrt bereit sein, sich mit der bloßen Bekanntgabe der Gewinnerfilme im März zu begnügen, trotzdem auf die Sommer-Berlinale hinzufiebern und dann auch jene Produktionen noch sehen zu wollen, die bei der Jury leer ausgingen?
Die Kinos kämpfen ums Überleben

Die traurige Erfahrung eines Berliner Februars ohne Filmfestspiele macht jedenfalls deutlich, wie dramatisch die Lage ist. Schätzungen zufolge ging der globale Umsatz der Filmbranche 2020 im Vorjahresvergleich um mehr als 70 Prozent zurück. Die Einnahmen des deutschen Films schrumpften um etwa 50 Prozent. Das geringere Minus erklärt sich mit dem höheren einheimischen Marktanteil wegen der stornierten US-Blockbuster. Produktionsfirmen dümpeln dahin, auch wenn Projekte unter strengen Hygienevorschriften realisiert werden können. Die geschlossenen Kinos und ausgebremsten Verleiher kämpfen ums Überleben. Zahlreiche Blockbuster hängen in der Warteschleife, der Start des neuen Bond-Thrillers wurde bereits fünf Mal verschoben. "Keine Zeit zu sterben" ist jetzt für den Oktober angekündigt. "Keine Zeit zu starten", spotten die Fans und vergleichen 007 mit dem Berliner Flughafen BER.
Der Terminplan ist komplett durcheinandergeraten. Normalerweise dient die Berlinale, das erste Großfestival im Jahr, als Startrampe vor allem für kleinere, unabhängige Filme. Jetzt muss der digitale Markt den Anschub alleine leisten, gleichzeitig ist der Filmstau gewaltig. Der deutsche Filmpreis wandert vom Frühjahr in den Herbst, das Filmfest Cannes vom Mai in den Juli. Auch die für den 25. April anberaumte Oscar-Gala wird wohl kaum in gewohnter Form stattfinden können.
Filmstart auf Streaming-Portalen statt im Kino
Geduld und Kredite sind überstrapaziert, die Perspektiven bleiben vage. Immer mehr Produktionsfirmen gehen dazu über, Filme direkt als Streaming zu starten, vom Pixar-Film "Soul" und David Finchers "Mank" über den "Citizen Kane"-Autor Herman Mankiewicz bis zu "Beginning", dem vielbeachteten Debüt der Georgierin Déa Kulumbegashvili.
Die jüngsten Nachrichten aus den USA markieren eine Zeitenwende. Warner Bros hat angekündigt, all seine Filme dieses Jahr zeitgleich zum Kinostart auf dem hauseigenen Streamingportal HBO Max herauszubringen. Erstmals war Warner im vergangenen Jahr auf diese Weise mit dem Superheldinnenfilm "Wonder Woman 1984" verfahren. Unklar ist, was das für deutsche Fans bedeutet: HBO Max ist hier bislang nicht verfügbar. Andere versuchen es mit einer Kombination aus kostspieligen Premium-Online-Angeboten und zeitlich versetzten Starts im normalen Aboservice. So kostete die lange erwartete Realverfilmung des Animationsklassikers "Mulan" auf Disney Plus zunächst 22 Euro. Studios, die noch keine eigenen Streamingdienste betreiben, verkaufen lukrative Titel an Netflix, Amazon Prime und Co.
Netflix als Krisengewinner
Bei der Oscar-Academy galt bislang die Regel, dass Filme nur dann ins Rennen gehen dürfen, wenn sie mindestens eine Woche regulär im Kino zu sehen waren. In der Corona-Saison ist die Regel außer Kraft gesetzt. Ausnahmsweise, wie die Academy betont. Aber die Rückkehr zum alten Modell, also zu einem Zeitfenster für die exklusive Auswertung im Kino vor der digitalen Vermarktung, hält nicht nur das Fachmagazin "Variety" für unwahrscheinlich. Schließlich haben sich die Sehgewohnheiten schon vor Corona verändert. Wobei die simple Vorstellung eines aus den Sälen auf die Couch abwandernden Publikums schlicht falsch ist: Wer viel streamt, geht auch überdurchschnittlich viel ins Kino.
Folgt dem pandemie-bedingten Waffenstillstand zwischen den Kinos und den Streaminganbietern also demnächst der Friedensschluss? Oder wirkt Corona als Brandbeschleuniger in einem brutalen Verdrängungswettbewerb? Klar ist, dass vor allem Netflix im heiß umkämpften Online-Markt zum Krisengewinner wird, mit inzwischen 200 Millionen Abonnenten weltweit, gefolgt von Amazon Prime mit 150 und Disney Plus mit 90 Millionen Nutzern. Bei den Oscars dürfte Netflix diesmal den Nominierungsrekord halten. Und vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass Noah Baumbach, der seit "Marriage Story" gefragteste Regisseur der US-Independentszene, einen mehrjährigen Exklusivvertrag mit dem Unternehmen abgeschlossen hat. Baumbach schwärmt gar von Netflix als seiner neuen Familie.
Verluste für deutsche Kinos in Milliardenhöhe
"Variety" gibt aber auch zu bedenken, dass sich die reine Auswertung im Netz für Spitzenbudgets von mehr als 200 Millionen US-Dollar nicht rechnet. Ein Bond-Film spielt nur dann seine Kosten wieder ein, wenn er weltweit die Multiplexhäuser füllt. Ganz abgesehen vom Merchandising und anderen Businesszweigen: Disney mit seinen Vergnügungsparks und Kreuzfahrtangeboten musste fast 30.000 Beschäftigte entlassen. Und bei 007 wird gar darüber spekuliert, ob wegen des Product Placement Szenen nachgedreht werden müssen; schließlich kann Bond nicht mit einem veralteten Smartphone die Welt retten.
Die deutschen Kinos schätzen ihren Gesamtverlust 2020 auf eine Milliarde Euro. Das "Neustart Kultur"-Programm des Bundes unterstützt die komplette Filmwirtschaft mit gerade mal 120 Millionen Euro. Der erfahrene Hannoveraner Kinobetreiber Hans-Joachim Flebbe spricht zudem von kafkaesker Bürokratie bei den Corona-Hilfsanträgen, vor allem für den Mittelstand. Cinestar-Geschäftsführer Oliver Fock rechnet vor, dass gerade mal 0,14 Prozent der versprochenen November- und Dezemberhilfen bislang bei der Kette eingetroffen sind. Christine Berg, Chefin des Hauptverbands der Filmtheater, befürchtet schon länger, dass zahlreiche Häuser werden aufgeben müssen. Und Christoph Terhechte, Leiter des Leipziger Dokumentarfilmfestivals, fordert staatliche Kultursubventionen zumindest für die Arthouse-Kinos - wie sie für Bühnen, Museen und Konzerthäuser längst selbstverständlich sind.
"Raus aus der Komfortzone"
Klagerufe allerorten. Aber es gibt auch andere Stimmen. "Raus aus der Komfortzone", mahnt die polnische Regisseurin Agnieszka Holland, Präsidentin der Europäischen Filmakademie. Sie hält es für ein schlimmes Versäumnis der Europäer, nicht längst eigene Streamingportale entwickelt zu haben, um den mächtigen Algorithmen der Amerikaner kuratierte Plattformen entgegenzusetzen.
Dass die Streamingdienste nicht als Totengräber des Kinos verteufelt werden dürfen, diese Einsicht dämmert auch hierzulande. Das Gemeinschaftserlebnis eines Films im gut gefüllten Saal ist unersetzbar, dennoch sollte es nicht verklärt werden.Dani Levys "Känguru Chroniken", die wenige Tage nach dem Start vom ersten Lockdown ereilt wurden, brachten es dank vorgezogener Streamingauswertung auf gut 800.000 Zuschauer. Ein Teil der Online-Ticketerlöse kam den geschlossenen Kinos zugute, ein Modell, das zunehmend Schule macht.
Hat die Sperrfrist noch eine Zukunft?
Regulär gilt in Deutschland eine Sperrfrist zwischen Kinostart und Weitervermarktung von mindestens sechs Monaten. In der nächsten großen Novelle des Filmfördergesetzes wird dieses "Verwertungsfenster" gewiss kürzer ausfallen. Erste Branchenverbände haben ihre Bereitschaft dazu signalisiert. Die gerade verabschiedete "Kleine Novelle" für die Interimszeit erlaubt schon jetzt reine Online-Starts, unter bestimmten Voraussetzungen.
Vielleicht fällt mit den Erfahrungen der Pandemie die Sperrfrist sogar vollständig - nicht gegen, sondern im Verbund mit einer lebendigen, vielfältigen Kinolandschaft. Die Frist hat keine Zukunft, sagt jedenfalls Daniel Sponsel vom Münchner Dokumentarfilmfest, das als erstes Festival in Deutschland komplett online ausgerichtet wurde. Er plädiert dafür, dass die Kinos selbst digitale Räume eröffnen und nicht gestaffelt, sondern simultan hier wie dort Filme präsentieren. Schon weil die Werbetrommel dann nicht mehrfach gerührt werden muss.
Filmfestivals werden gerade nach Corona gefragt sein
Ein kalter Februar in Berlin, aber keine Berlinale. Ob sie als entspanntes Publikumsevent wenigstens im Juni stattfinden kann? Eine bange Frage, seitdem die auf Ende Mai vertagte Leipziger Buchmesse nun vollständig abgesagt wurde. Eins ist sicher: Filmfestivals werden gerade nach Corona gefragt sein, denn die soziale und kulturelle Nähe fehlt jetzt mehr denn je.
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