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Intendant Erich Sidler: Die immerwährende Suche nach dem Glück

Stand: 22.09.2023 09:05 Uhr

Welche Gesellschaft wollen wir sein? Und was genau ist Glück? Was kann das Theater leisten in schwierigen Zeiten? Welche gesellschaftspolitischen Themen werden verhandelt? Eine Essayreihe.

von Erich Sidler

Zersetzt sich die alte Normalität, werden gleichzeitig die Kriterien einer neuen Ordnung diskutiert. Für Milton Friedman, dem neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler, war es essentiell, stetig Ideen und Alternativen zu bestehenden Konzepten zu entwickeln und sie verfügbar zu halten. Bricht ein System zusammen, ist das die Chance für Ideen, die gerade "herumliegen". Der Umbruch kann das bis dato politisch Unmögliche zum politisch Notwendigen machen.

Dieser entscheidende Schritt ist aber ohne die letzten und großen Fragen nicht zu machen: Was ist eine gute Gesellschaft oder was ein gutes Leben? Wir verstehen das Deutsche Theater Göttingen als Raum, in dem diese Fragen und Konzepte betrachtet, unterhalten und diskutiert werden.

Das Glück und die Zeitenwende

Wir leben ein Kulturmodell, das auf Wachstum als Ausgangspunkt allen Denkens und Handelns basiert und das Ziel verfolgt, vieles immer besser machen zu wollen - wobei die Frage, was besser bedeutet, bereits ins Epizentrum vordringt. Das Konzept ist erfolgreich, da es auf Belohnung baut und sich so seit Jahrzehnten oft gegen die Vernunft durchsetzt. Bereits 1972 hat der Club of Rome mit "Die Grenzen des Wachstums" die Konsequenzen unseres Handelns formuliert und die zeitnahe Zerstörung des Planeten vorausgesagt. In der Zwischenzeit hat sich der Pro-Kopf-Anspruch auf Ressourcen vervielfacht. Die Hoffnung auf Zufriedenheit wird mit Konsumwünschen genährt, wobei die Bedürfnisse erst erzeugt werden und die Befriedigungen nach kurzer Zeit neue Bedürfnisse evozieren. Die Jagd nach dem vermeintlichen Glückserlebnis löst sich vom Sinn und Zweck des Konsumgutes.

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Das Otfried-Müller-Haus in Göttingen. © Norddeutscher Rundfunk Foto: Noah Raffenberg

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Auch wird sich mehr Kommunikation in Social Media, mehr KI, mehr Digitalisierung künftig weiter als ein Versprechen einer besseren Welt darstellen, was aber letztlich eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche bedeutet. Jede Handlung und jede Äußerung ist Anlass für Bewertungen, jedes durch Informationssuche veräußerte Interesse, jede Bewegung, jede mediale Kommunikation ist Gelegenheit für die Erweiterung von Persönlichkeitsprofilen, die über Netzteilnehmer*innen angelegt sind. Diese dienen der Verhaltensvorhersage, um wiederum Bedürfnisse zu erzeugen und am besten in Echtzeit zu befriedigen.

Aber das ständige Mahnen, zum Beispiel vom Club of Rome, hat sich verselbständigt und ausgehöhlt und selbst sichtbare Veränderungen der Umwelt durch den Klimawandel, wie eine Flutkatastrophe im Ahrtal, die ein Starkwetterereignis aufgrund von Klimaerwärmung und Versiegelung von Schwemmland war, wurde als Warnung deklariert und ins Regal gestellt. Handeln wäre nicht 130 sondern 80 km/h auf der Autobahn.

Um dem Klimawandel zu begegnen, setzen die Politiker*innen lieber Ziele. Sie verhalten sich nicht zur Gegenwart, sondern nutzen die Abstraktion eines künftigen Zeitpunktes, an dem etwas erreicht sein soll. Vorsätze zu fassen, vermag aber nur Süchtige im Moment zu beruhigen und zu helfen, die Notwendigkeit des Entzugs beziehungsweise der großen Veränderungen der Lebensweise zu verdrängen.

Ich. Ich. Und ich.

Zu denken, dass die rasant auf uns zukommende Künstliche Intelligenz, die Macht über den Menschen ergreift, um ihn vor dem selbstverschuldeten Untergang durch Klimakatastrophe oder Diktatur zu bewahren, halte ich für reichlich naiv. Es könnte sein, dass die zweifelsfrei wichtige Phase der Individualisierung vorbei ist und wir das spätmoderne Subjekt, nach einer langen Phase der Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen, Traditionen und Moral, in eine Balance mit der sinnstiftenden und verbindenden Aufgabe bringen müssen, wie wir unser Sein in Einklang mit dem Planeten bringen und was uns denn letztlich Glück erfahren lässt.

Antworten und Lösungsansätze werden nur durch soziale Interaktionen kreiert. Das Deutsche Theater Göttingen ist ein Ort, an dem diese Prozesse fortwährend stattfinden. Es bietet auch in der kommenden Spielzeit einen Reflexionsraum für Utopien und Thesen. Es ist und bleibt ein diskursiver Raum und somit ein unverzichtbarer Teil gelebter Demokratie. Als ein Ort der Vereinbarung und Aushandlung stellt das Theater stets die Grundfrage allen demokratischen Denkens und Handelns: Welche Gesellschaft wollen wir sein? Und was genau ist Glück?

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 15.09.2023 | 16:00 Uhr

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