NDR Buch des Monats März: "Vom Aufstehen"
Helga Schubert ist die literarische Wiederentdeckung des letzten Jahres: Als 80-Jährige gewann sie den Bachmannpreis. Nun ist nach 18 Jahren ohne Veröffentlichung ihr Buch "Vom Aufstehen" erschienen.
Der Roman ist nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021.
"Ich denke nicht, dass ich da ganz große Scheiße abgeliefert habe. Von allen Erzählungen - den Hunderten, die ich in meinem Leben geschrieben habe - ist dieser Text wahrscheinlich der beste." Das sagte Helga Schubert im vergangenen Sommer über ihre Erzählung "Vom Aufstehen", mit der sie ein paar Tage später den Bachmannpreis gewann. Dieses kleine, sinnliche Meisterwerk, 18 Seiten kurz, steht ganz am Ende des Buches. Was folgerichtig ist, denn Helga Schubert bekennt: Sie schreibt von hinten. Jede Erzählung beginnt sie im Kopf mit dem letzten Satz.
Es stimmte, ich hatte von allem genug!
Hauptsache, es geht gut aus!
So etwas kann man sich einfach nicht ausdenken!
Leseprobe
29 Erzählungen blättern das Leben von Helga Schubert auf
Ausgedacht ist wenig in diesem Buch. Die 29 Geschichten erzählen größtenteils aus der Ich-Perspektive und blättern das Leben der Helga Schubert auf, aber auch acht Jahrzehnte deutscher Geschichte. Manchmal ist der Ausgangspunkt eine Erinnerung aus der Kindheit: der erste Tag der Sommerferien, den sie immer bei den Greifswalder Großeltern verbringen durfte, in der Hängematte baumelnd, über sich die Klaräpfel, neben sich den duftenden Muckefuck. Noch sieben Jahrzehnte später beschreibt die Autorin diese Erinnerung als den "idealen Ort", der ihr hilft, zu überleben. Helga Schubert ist eine Sammlerin mit reichem Fundus: Sätze, Schicksale und Erinnerungen saugt sie auf und verwandelt sie.
Etwas erzählen, was nur ich weiß. Und wenn es jemand liest, weiß es noch jemand. Für die wenigen Minuten, in denen er die Geschichte liest, in der unendlich eisigen Welt. Leseprobe
Schuberts "Diktaturschaden" von der DDR
Auch wenn es hier anders klingt: Sie ist auf der Hut vor Pathos. Die Autorin nennt es ihren "Diktaturschaden". Das Leben in der DDR hat sie misstrauisch gemacht gegen alle Losungen, alles aufgepumpt Schönklingende. Die Skepsis wirkt auch heute noch, selbst bei Worten wie "Wintersonnenwende".
Die DDR ist wie eine Brandmarke bei einem Zuchtpferd - man hat sie lebenslang. Leseprobe
So antwortet sie dem westdeutschen Germanisten, der sie in einer Schublade gefunden hat mit der Aufschrift "DDR-Schriftstellerin" und sie fragt, ob diese Einsortierung ihr behagt. Das sind nur die kleinen Schrammen; die tiefen Wunden kommen aus der Kindheit. Besonders eindringlich erzählt in "Eine Wahlverwandtschaft" - eine Erzählung wie eine Familienaufstellung. Mit einem totem jungen Vater, er fiel 1941, und mit einer Mutter, die lebenslange Dankbarkeit fordert, weil sie ihre Tochter nicht vergiftet hat 1945, wie der Schwiegervater es wollte.
Ihre Tochter, die von meiner Mutter geschlagen wurde, manchmal einfach, weil sie da war oder hustete oder abends im Bett weinte als kleines Kind. Meiner Mutter schien es, dass dieses Kind unzufrieden mit ihr war. Leseprobe
"Vom Aufstehen": lebensklug, poetisch und sinnlich
In den stärksten Passagen ist dieses Buch lebensklug, poetisch, sinnlich, mal einfach nur das Grauen in kurzen Hauptsätzen erzählend, mal verzeihend. Doch es gibt auch Erzählungen, die eher schwach sind: Wenn die Autorin beispielsweise vom 9. November 1989 berichtet, dann wirkt es eher wie die x-beliebige Schilderung einer Frau, die dabei war.
In der titelgebenden Erzählung "Vom Aufstehen" tauchen alle noch einmal auf: die Mutter, der Ehemann und Maler, die Düfte ihres Lebens und die Verletzungen. Diese 18 Seiten sind wie ein hochprozentiger Grappa: alle Pressrückstände ihres Lebens hat Schubert destilliert und in ein schmales Glas gegossen.
Dazu gehören: Das Hinsehen und das Erschrecken, dass in der Welt der Menschen nichts einfach gut oder böse ist, dass jeder, auch die, die schreibt, gut und böse ist, erschöpft und wach, verzeihend und nachtragend, hasserfüllt und liebend, verletzend und verwundbar. Leseprobe
Vom Aufstehen
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- dtv
- Bestellnummer:
- 978-3423282789
- Preis:
- 22,00 €
