Cover des Buchs Unheimlich nah von Johann Scheerer © Piper Verlag

NDR Buch des Monats Januar: "Unheimlich nah"

Stand: 12.01.2021 16:20 Uhr

Johann Scheerers Buch "Unheimlich nah" ist ein klassischer Coming-of-Age-Roman mit besonderen Vorzeichen: Dahinter stehen die dramatischen Wochen der Entführung Jan Philipp Reemtsmas, Scheerers Vater.

von Katja Weise

2018 hat der Hamburger Musiker und Musikproduzent bereits für viel Aufmerksamkeit gesorgt mit seinem Buch "Wir sind dann wohl die Angehörigen". Nun ist in dieser Woche Johann Scheerers neuer Roman herausgekommen: "Unheimlich nah" ist das NDR Buch des Monats Januar.

Johann Scheerer im NDR Kultur Studio © NDR Kultur
Johann Scheerer präsentiert seinen neuen Roman im Sendestudio von NDR Kultur.

Der Vater wurde freigelassen, die Familie ist wieder zusammen und sucht Abstand in New York. "Unheimlich nah" beginnt, wo "Wir sind dann wohl die Angehörigen" endet. Vor der Rückkehr nach Hamburg versteht Johann mit Blick auf sein künftiges Leben nur: "Ich würde einer mit Bodyguards sein."

Ständig umgeben von Personenschützern

Er fragt sich: "Wie sehen die eigentlich aus? Was haben die eigentlich für Klamotten an? Weil das, glaube ich, Fragen sind, die einen als Teenager sowieso beschäftigen: Was ziehe ich an und was ziehe ich ganz bestimmt nicht an? Und mit was für Menschen will ich ganz bestimmt nicht gesehen werden? Ich weiß noch, wie mir als Jugendlichem die unmöglichsten Dinge peinlich gewesen sind."

Die meisten Sicherheitsleute sind aber sogar ziemlich coole Typen, durchtrainierte Männer, die Tag und Nacht über die Familie wachen. Zäune werden gezogen, Kameras installiert und jeder Schritt beschützt. Wenn Johann morgens zur Schule muss, fährt ein BMW vor.

Wenn ich mich nachmittags mit Freunden traf, gab ich vorher an, wo das passieren würde, und verbrachte die Zeit vorwiegend damit, mich regelmäßig umzuschauen, ob die Personenschützer nicht zu auffällig irgendwo rumstanden und meine Freunde mitbekamen, dass nun auf mich aufgepasst werden musste. Leseprobe

Der Jugendliche wird zur Schutzperson

Der inzwischen 14-Jährige bekommt ein Handy, in den 90er-Jahren absolut ungewöhnlich, um die Personenschützer jederzeit über seine Pläne informieren zu können. Die Freiheit habe ihm gar nicht so sehr gefehlt, sagt Scheerer: "Was aber vor allen Dingen gefehlt hat, war die Spontaneität. Das ist etwas, was im Teenager-Dasein eigentlich ein und alles ist. Da interessiert einen ja nicht, was man vor fünf Minuten für eine Meinung hatte, wenn irgendetwas Spannendes in der Zwischenzeit passiert ist."

Personenschutz und Schutzperson. Das war ja schon fast ein Kalauer. Fehlte nur noch Patronenschutz und Schutzpatron. Leseprobe

Wie schon in "Wir sind dann wohl die Angehörigen" erzählt Johann Scheerer mühelos und packend aus der Perspektive des Heranwachsenden, der mal störrisch, mal verstört, mal hilflos oder auch einfach nur wütend mit dieser neuen Lebenssituation klarzukommen versucht. Er bleibt spürbar nah dran an der eigenen Biografie, auch wenn nicht alles, was er schildert, genauso stattgefunden hat: "Das ist alles wahrhaftig, was da drinsteht. Die Gefühle stimmen, die Stimmungen stimmen, aber die Menschen stimmen eben nicht immer."

Leben mit einem Trauma

Wer bin ich? Wer kann, wer will und wer darf ich sein? Diese Fragen treiben den Ich-Erzähler um. Insofern ist "Unheimlich nah" ein klassischer Coming-of-Age Roman. Mit besonderen Vorzeichen: Denn dahinter stehen die dramatischen Wochen der Entführung von Jan Philipp Reemtsma. Er ist als ein anderer zurückgekommen.

Auch die Familie muss mit dem Trauma leben: "Ich glaube, dass der Prozess, sich überhaupt als Opfer zu sehen, in den allermeisten Fällen erst sehr, sehr lange nach dem tatsächlichen Verbrechen überhaupt anfängt. Wie lange es dauert, bis der abgeschlossen ist, ist, glaube ich, sehr individuell verschieden."

Unheimlich nah

von Johann Scheerer
Seitenzahl:
331 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Piper
Bestellnummer:
978-3-492-05915-2
Preis:
22,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 13.01.2021 | 12:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Zeitgeschichte

Romane

Jan Phillipp Reemtsma auf einem von den Entführern geschossenen Polaroidfoto. © picture-alliance / dpa Foto: DB

Entführung von Jan Philipp Reemtsma: 33 Tage im Kellerverlies

Am 25. März 1996 verschleppen Entführer den Hamburger Millionär Reemtsma. Nach 33 Tagen kommt er gegen ein Millionen-Lösegeld frei. mehr

Mehr Kultur

Das Münchener Olympiastadion im Dunkeln mit Flammen auf der Bühne. © picture alliance/dpa | Sven Hoppe

Rammstein nach Vorwürfen in München: War da was?

Der Auftritt von Rammstein fühlte sich an wie immer. Die Vorwürfe gegen Frontmann Till Lindemann scheinen bei den Fans abzuprallen. mehr