NDR Buch des Monats Juli: "Die Ewigkeit ist ein guter Ort"
Für das erste Kapitel ihres Romans "Die Ewigkeit ist ein guter Ort" hatte Tamar Noort vor drei Jahren den Hamburger Literaturpreis gewonnen. Diese Vorschuss-Lorbeeren waren sehr berechtigt, findet Daniel Kaiser.
Ein sprechender Papagei, verwegene Motorrad-Artisten und eine dramatisch absackende Dorfkirche - mittendrin eine junge, überforderte Theologin. Darum geht es in unserem NDR Buch des Monats Juli.
Eine Theologin mit Gott-Demenz
Elke sitzt am Sterbebett einer alten Dame. Die junge Frau arbeitet als Seelsorgerin im Altenheim. Sie will das Vaterunser sprechen - Theologen-Alltag eigentlich.
Aber nach "Dein Wille geschehe" kam nichts mehr. Ich konzentrierte mich, irgendwas mit Schuld und Brot und Ewigkeit. (…) Ich fing noch mal von vorne an, und mein Körper erinnerte sich zwar an Rhythmus und Klang, aber nicht an Sätze, die Sinn ergeben. (…) Ich reihte Brot und Schuld und Ewigkeit aneinander, ich verband sie mit Murmelphrasen, die nach Gebet klangen. Es war eine Art Sampling-Version. Leseprobe
Elke hat eine Gott-Demenz. Ihr kommen plötzlich weder Gebete noch Bibeltexte über die Lippen. Ein Pastoren-GAU!
"Ich brauchte ein Bild für einen fundamentalen Verlust", sagt die Autorin Tamar Noort. "Das ist ja nicht nur ein philosophischer Zweifel, wo sich jemand Gedanken über den Sinn seines Lebens macht. Es sollte ein Buch sein, dass sich unmittelbar mit dieser Erfahrung auseinandersetzt, und dafür fand ich Gott-Demenz ein gutes Bild."
Was passiert, wenn man sich selber schaffen muss?
Elkes Glauben und auch ihr Leben fallen auseinander. Alles als Pastorenkind von klein auf Erlernte, aber auch alle anderen Beziehungen und Gewissheiten, das Verhältnis zum Freund Jan und zum Vater, all das, was irgendwie immer schon da war, erodiert.
"Mich hat interessiert, was passiert, wenn man diese Orientierungspunkte im Leben wegnimmt und sich selber schaffen muss: Woran glaube ich, und woran orientiere ich mich? Das kann sich auf jeden Lebensbereich beziehen - nicht nur auf den Glauben allein", findet Noort.
Elke muss sich emanzipieren - einen eigenen Glauben, eigene Worte, eine eigene Haltung finden. Zum Unfalltod ihres Bruders zum Beispiel, mit dem sie während des Besuchs bei den Eltern noch einmal konfrontiert wird. Sie muss sich von ihrem Umfeld lösen - und vor allem von ihrem Vater, der sie laufend dazu drängt, doch bitteschön bald seine Pastorenstelle in der Dorfkirche zu übernehmen.
Elke erlebt die Freiheit
Und Elke löst sich spektakulär: Sie trifft auf Motorrad-Artisten - Steilwand-Fahrer, die von Stadt zu Stadt touren - und taucht ein in diese besondere Lebenskünstler-Szene. "Das ist eine Kunst - zwischen Kunst und Zirkus. Mich hat das fasziniert", gesteht Noort. "Es ist so crazy und gleichzeitig so tiefgründig. Die Nähe zum Tod ist da. Es ist wirklich gefährlich. Es sind auch Leute dabei umgekommen."
Elke steigt mit auf ein Motorrad, und dann brettern sie los - senkrecht die Wand hinauf.
Höher und höher stiegen wir, und ich löste mich von der Erde und der Schwerkraft und von allen Dingen, die mich am Boden hielten. Jemand jubelte, laut, euphorisch, und das war ich, es brodelte aus mir heraus. Leseprobe
"Immer im Kreis - das hat mir sehr gefallen, als ich nach einem Bild suchte, wie sich Elke aus dem Traditionellen lösen und sich in der Gegenwart verankern kann. Sie muss ja für sich erstmal klarkriegen, wofür sie steht. Dafür ist die Kreisbewegung symptomatisch", erklärt Noort.
"Die Ewigkeit ist ein guter Ort": Ein Buch für Metaphern-Fans
Und wirklich: Beim Lesen bekommt man da auch Herzklopfen. Überhaupt findet Noort immer wieder starke, poetische, manchmal surreale Bilder für Seelenzustände. Da verrottet ein totes Mäusebaby in einem Schmuckkästchen auf der Fensterbank, ein hysterischer Papagei attackiert Elkes Freund und am Ende sackt sogar die Dorfkirche ihres Vaters spektakulär ab. Dieses Buch ist wirklich etwas für Metaphern-Fans. Es ist ein intensiver Coming-of-Age-Roman - wenn auch mit Verzögerung. Denn Elke geht schon auf die 30 zu: "Es ist ein spätes Erwachsenwerden, das sie durchmachen muss", so Noort. "Es ist umso schwieriger, weil sie alle Voraussetzungen hat, um alles so weiter zu machen wie bisher. Sie könnte die Gemeinde des Vaters übernehmen. Sie könnte Jan heiraten und sich bekochen lassen, aber sie hätte nur eine geborgte Identität, nicht ihre eigene."
Wir begleiten Elke bei diesem schmerzhaften, im Fall des Mäusekadavers auch verstörenden Prozess der Identitätsfindung, der aber auch Spaß macht: wenn etwa gleich am Anfang im Kölner Karneval Eisbären und eine Krankschwester in der Bahn kopulieren oder der Papagei so richtig loslegt. Dieser starke, unterhaltsame Roman regt dazu an, darüber nachzudenken, was uns als Individuen eigentlich ausmacht.
Die Ewigkeit ist ein guter Ort
- Seitenzahl:
- 304 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Kindler
- Bestellnummer:
- 978-3-463-00034-3
- Preis:
- 22 €
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Romane
