Stand: 05.01.2016 11:29 Uhr

Imre Kertész: "Roman eines Schicksallosen"

In 25 Folgen der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Imre Kertész' "Roman eines Schicksallosen".

Von Hanjo Kesting

Imre Kertész, Nobelpreisträger © picture-alliance
Imre Kertés erhielt er als erster ungarischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur.

Im Jahr 1975 erschien in Budapest der Roman "Schicksallosigkeit" von Imre Kertész, der Erstlingsroman eines damals 46-jährigen Schriftstellers. Er blieb fast ohne Resonanz. Erst als das Buch 20 Jahre später bei Rowohlt-Berlin erschien, jetzt unter dem Titel "Roman eines Schicksallosen", wurde der Autor Imre Kertész schlagartig bekannt. Einige Jahre später erhielt er als erster ungarischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur.

Auschwitz, eine "fremde, unnahbare Transzendenz"

Der "Roman eines Schicksallosen" spielt in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs. György Köves, das Kind einer jüdischen Familie, 14 Jahre alt, wird während des Arbeitsdienstes in Budapest festgenommen und nach Auschwitz deportiert. Der Gaskammer entgeht er dadurch, dass er sich als Sechzehnjähriger ausgibt. Nach der Ankunft stellt er mit Blick auf die Menschenschlange, die sich vor dem die Selektion ausführenden Arzt in zwei Gruppen teilt, bewundernd fest: "Alles war in Bewegung, alles funktionierte, jeder war an seinem Platz und machte das Seine, exakt, heiter, wie geschmiert."

Wie über die Vernichtungslager schreiben? Zwar gibt es zahllose Bücher, Theaterstücke, Dokumentationen und Filme zu diesem Thema, dennoch entzieht sich die planvoll organisierte und praktizierte Menschenvernichtung einer "realistischen", nachahmenden Darstellung. Imre Kertész hat Auschwitz eine "fremde, unnahbare Transzendenz" genannt. Er erzählt die ungeheuren, alle Vorstellungskraft übersteigenden Vorgänge aus der quasi "unschuldigen" Perspektive eines gerade 15-jährigen Jungen. "Eine so entsetzliche, verständnisinnige Unschuld darzustellen", schrieb Hans Magnus Enzensberger, "das hatte vor ihm noch keiner gewagt."

Entdeckung der Vernunft im Absurden

Tatsächlich sieht György Köves die Wirklichkeit des Lagers aus beinahe kindlicher Sicht. Da es ihm nicht gelingt, irgendeinen Sinn in dem zu finden, was er erlebt, beginnt er die Dinge gleichsam "objektiv" zu betrachten, das heißt er rationalisiert selbst die ungeheuerlichsten Vorgänge. Bereits zuhause in Budapest, in seiner Familie, in der Schule, später im Arbeitsdienst, hat sich der Junge als überaus anpassungsfähig erwiesen. Diese Haltung ändert sich auch später nicht, nur die äußeren Umstände wechseln. Zwischen Familie, Schule, Arbeitsdienst und Konzentrationslager bestehen hinsichtlich der Haltung nur graduelle Unterschiede. György Köves entdeckt den Sinn im Sinnlosen, die Vernunft im Absurden, die Logik inmitten des Grauenhaften. Er drückt es mit den Worten aus: "Ich protestierte nie, ich war bestrebt, alles zu tun, wozu ich imstande war." So entsteht der Eindruck des Unausweichlichen und einer inneren Folgerichtigkeit, der aus dem vollständigen Übergewicht des Objektiven gegenüber dem erlebenden Subjekt herrührt.

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Der Leser des Buches, der die Perspektive des Kindes teilt, kann der Gewalt des Objektiven ebenso wenig wie der Erzähler entkommen. Ihm bietet sich kein Ausweg, weder im ästhetischen Genuss noch in irgendeiner Möglichkeit der Identifikation mit einem positiven Helden. Die Welt des Lagers entzieht sich durch die konsequent festgehaltene Perspektive des Kindes der moralischen Bewertung und lässt einen moralischen Widerstand gar nicht erst aufkommen.

Über Auschwitz hat Imre Kertész in einem Interview gesagt, es markiere so etwas wie einen "Zivilisationsbruch" (er verwendete dieses deutsche Wort), stelle etwas weltgeschichtlich Neues dar. Der "Roman eines Schicksallosen" findet für dieses Neue eine literarische Form: Er schildert die Welt der Lager, den Genozid, als logisch in sich selbst, als eine Konsequenz und radikalisierte Form der Moderne. "Habt ihr bemerkt, dass in diesem Jahrhundert alles eigentlicher wird, sein eigentliches Selbst offenbart?", schreibt Kertész. "Der Soldat wird zum Berufsmörder, die Politik zum Verbrechen, das Kapital zu einem mit Krematorien ausgerüsteten Menschenvernichtungsbetrieb. Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Wahrheit, ohne jeden Zweifel."

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 23.02.2016 | 09:20 Uhr

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